Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)
lebten, durften wir nicht später als 22 Uhr nach Hause kommen. Wenn wir nach 22 Uhr zurückkehrten, kam es auch schon vor, dass wir vor einer verriegelten Haustür standen, weil Vater uns damit eine Lektion erteilen wollte. Wenn Vater es mal vergaß, die Tür von innen abzuschließen, und wir ins Haus hineingelangten, legten wir uns zum Schlafen in die kleine Gästetoilette unmittelbar am Hauseingang, um Vater nicht zu wecken.
Wegen des Essens machte ich mir auch keine Sorgen. Es ist weitgehend bekannt, dass ein Mensch 35 Tage ohne Nahrung und drei Tage ohne Wasser überleben kann.
Nach meinem Bachelorabschluss in Vermont schrieb ich mich an der Universität von Kent at Canterbury in Brüssel für einen Masterstudiengang in Internationale Beziehungen ein. Mein Onkel arbeitete zu der Zeit als Konsul an der koreanischen Botschaft in Brüssel. Bei ihm wollte ich allerdings nicht wohnen, weil meine Freiheit stark eingeschränkt gewesen wäre und meine Eltern ständige Berichterstattung erhalten hätten. Eine Wohnung in Brüssel konnte ich mir nicht leisten. Meine Eltern hatten bereits einen Kredit über 15.000 Euro aufgenommen, um die Studiengebühren zu bezahlen.
Durch Zufall wurde ich im rund 30 Kilometer entfernt liegenden Leuven fündig. Es gab dort eine Eishockeymannschaft, die in der ersten belgischen Liga spielte. Nach einem Try-Out mit den Leuven Chiefs durfte ich bleiben, und neben einer monatlichen Aufwandsentschädigung wurde mir auch eine 30 Quadratmeter große möblierte Wohnung zur Verfügung gestellt, die ich mit zwei weiteren Spielern teilen musste. Die Wohnung lag direkt im Eisstadion. Eigentlich war es eine Art Abstellkammer für den Eismeister, die von ihm zu einem beschaulichen Wohnraum umfunktioniert worden war, wenn er mal wieder von seiner Frau aus dem Haus geschmissen wurde, weil er betrunken war. Meine Zimmergenossen waren Jean-Francois aus Kanada und Jirˇí aus Tschechien, die voll auf die Eishockeykarte setzten und außer Eishockey auch nichts weiter im Sinn hatten. Für mich wurde Eishockey nur noch Mittel zum Zweck. Wenn wir nicht trainierten, dann war der Fernseher Dreh- und Angelpunkt für Jean-Francois und Jirˇí. Meine Rückzugsorte zum Lernen waren das Eisstadionrestaurant oder mein Auto, ein Unfallwagen, den ich geschenkt bekommen und den ein türkischer Freund der Familie wieder straßentauglich gemacht hatte. Den Luxus, dass die Universitätsbücherei wie am St. Michael’s College bis zwei Uhr morgens geöffnet hatte, auch an den Wochenenden, hatte ich in Brüssel nicht mehr. Aber wenn samstags keine Spiele anfielen, konnte ich wenigstens die vollen sechs Stunden in der Bücherei ausnutzen. Das Leben mit wenig Geld macht kreativ, ganz nach den Worten Berlusconis, der seinen Landsleuten nach dem Erdbeben in den Abruzzen aufmunternd zurief, sie sollten ihre provisorische Notunterkunft doch als Campingurlaub betrachten.
Am Samstagabend und auch an manchen Sonntagen war im Stadion Eisdisco angesagt, so dass bei uns in der Wohnung alle Wände bebten. Halb Leuven tanzte auf der Eisfläche und ahmte John Travolta auf Kufen nach. Ich flüchtete mit den Büchern in mein Auto und betete zu Gott, dass das Licht lange halten möge. Ähnlich müssen sich die Steinzeitmenschen gefühlt haben. Lang lebe das Licht!
Die Aufwandsentschädigung reichte gerade einmal für den Sprit. Mein Essen verdiente ich mir, indem ich zweimal pro Woche eine eishockeybegeisterte und trinkfeste finnische Belegschaft von Nokia und Mitarbeiter der Botschaft trainierte. Dafür bekam ich keine Vergütung, aber warme Mahlzeiten im Eisstadionrestaurant.
Damals in Vermont studierte und lebte mein Freund Azar aus Russland unter ähnlichen Bedingungen wie ich. Die Not schweißte uns zusammen. Die richtig teueren Bücher für das Semester liehen wir uns von guten Freunden aus und kopierten sie im Kinko’s Copy Center Downtown. Das konnte manchmal mehrere Stunden beanspruchen. Freunde hielten uns die Tür am Hintereingang der Mensa auf, wo wir keine Studentenausweiskontrolle zu befürchten hatten, so dass wir uns frei am Büfett bedienen konnten. Natürlich hatten wir in der Mensa nichts verloren. Aber fast 3.000 Dollar pro Semester nur für das Essen zu bezahlen, erschien uns schlicht zu viel, da das Übriggebliebene am Ende des Tages ohnehin weggeschmissen wurde. Deshalb hatten wir kein schlechtes Gewissen. Mein mongolischer Freund, der in der Mensa arbeitete und wusste, dass wir uns dort illegal aufhielten, drückte
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