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Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Titel: Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Hyun
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plötzlich keine Gültigkeit mehr besaßen. Ein Stück Identität wurde weggeben. Mit der Einbürgerung wurden Mutter und Vater Teil des Wahlvolkes. Beide nahmen ihre deutsche Staatsbürgerschaft sehr ernst und vor allem ihre Pflicht, wählen zu gehen. Wenn Wahlen anstanden, zwang Vater uns und unseren Hund, stets geschlossen ins Wahllokal einzumarschieren. Das förderte unsere Politikverdrossenheit, und wir trugen zur Belustigung der Wahlhelferinnen und Wahlhelfer bei, die sich über die »neuen« Deutschen freuten, die ihren Stimmzettel in Begleitung einer Collie-Hündin abgaben.
    Auch in meiner Grundschulzeit war Politik nie ein Thema. Für viele von uns war sie eine unantastbare Welt, Lichtjahre von uns entfernt. Selbst Matthias und Norbert, meine Klassenkameraden ohne Migrationshintergrund, waren apolitisch. Beide kamen aus der Unterschicht und waren in der Hinsicht auch Migranten. Norbert sprach fast besser Türkisch als seine Muttersprache. Einmal nannte er unseren Lehrer » Esek! «. Der Lehrer fragte in die Runde der Klasse nach einer Übersetzung. Die Hände der türkischen Klassenkameraden schnellten sofort in die Höhe.
    » Esek bedeutet Eselficker!«, riefen einige von ihnen im Kanon, um Norbert eins auszuwischen. Norbert hatte zuvor einigen türkischen Klassenkameraden beim Fußballkartenweitwerfen wertvolle Sammelkarten abziehen können. Herr Krieg, sichtlich schockiert, ging schnurstracks auf Norbert zu und verpasste ihm die Backpfeife seines Lebens. Nach diesem traumatischen Erlebnis wurde Norbert ablehnend gegen das Erlernen von Wörtern, die er selber nicht verstand. Als unsere Klassenlehrerin den Ursprung des Wortes Demokratie erklären wollte, weigerte sich Norbert vehement, das Wort Demos auszusprechen. Gab es doch ein ähnlich klingendes Schimpfwort aus dem Türkischen: Domuz .
    In dem Migrantenviertel, wo ich aufwuchs, waren die Erwachsenen eher mit dem Überleben beschäftigt, als sich sinnlose Gedanken um die deutsche Politik zu machen. Die meisten hatten ohnehin kein Wahlrecht, um in irgendeiner Weise Einfluss auf Entscheidungsprozesse zu nehmen, die ihr Leben angingen. Es war eine schwierige Zeit. Die Kohl-Regierung versuchte vergeblich, längst heimisch gewordene Migranten mit einer Rückkehrprämie aus dem Land zu locken. Das Wort Einwanderungsland wurde in Regierungsorganisationen tabuisiert. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht viel über die Politik. Aber mir war klar, dass die bunte Vielfalt, wie ich sie während meiner Grundschulzeit erlebt hatte, Teil meines Lebens in Deutschland sein würde.

LEITKULTUR
    A ls guter Deutscher wollte ich mich mit allen Gegebenheiten des Deutschseins beschäftigen und war willig, mich der deutschen Leitkultur voll und ganz anzupassen. Doch das hätte mich fast das Leben gekostet.
    Während der Karnevalszeit hatte Vater uns Kinder immer mit zum Rosenmontagszug genommen. Meinem Vater war sehr daran gelegen, meinen Geschwistern und mir die deutsche Kultur nahezubringen. Wir waren fasziniert von den vielen kostümierten Karnevalisten und vor allem von den Kamellen. Ich muss etwa sechs Jahre alt gewesen sein, als ich voll der unglaublichsten Karnevalseindrücke nach Hause kam. Zum Deutschwerden gehört auch dazu, das Gelernte in die Praxis umzusetzen – so ähnlich muss ich wohl gedacht haben. Mein Vater legte sich schlafen, und ich ging kurz darauf in die Küche. Ich öffnete den Kühlschrank und nahm mir alle Eier heraus, die Mutter am Vortag im Supermarkt gekauft hatte. In meinem Cowboykostüm stieg ich auf den Küchenschrank hinauf und schmiss die Eier genau so, wie ich es vorher auf dem Karnevalszug gesehen hatte, in alle Himmelsrichtungen. Ich fand heraus, dass die Eier beim Aufschlagen unterschiedliche Geräusche machten, was mich erheiterte, aber nicht meinen Vater. Denn dieser wurde durch die Geräusche geweckt. Wenn man meinen Vater des Schlafes beraubt, wird er zur Bestie, und als solche stand er in seiner weißen Unterhose vor mir. Plötzlich bekam mein Vater große Augen – und ich auch. Meine Karnevalsheiterkeit war mit einem Male verflogen. Vater hob mich vom Küchentisch herunter, dabei hielt er stets Augenkontakt zu mir, so wie sich die Boxer vor einem Kampf gegenüberstehen.
    Dann sagte Vater: »Deine Popo juckt?!« Ich konnte ihm nicht einmal antworten. Er nahm sich einen Kochlöffel und versohlte mir den Hintern. Zunächst dachte ich, dass das auch zur Karnevalskultur gehöre, bis mir klar wurde, dass ich dort nur lustige Leute erlebt

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