Ohne Gewaehr
beflügelt. Mein ganzes Leben lang hatte ich
davon geträumt, zu den Klängen eines melancholischen Klavierstücks anmutig über
die Bühne zu schweben und mit sinnlichen, ausdrucksstarken Gesten jeden
einzelnen Zuschauer zu Tränen zu rühren.
Dieses Ziel wollte ich auf gar keinen Fall aufgeben,
egal was ich dafür tun musste. Wenn ich mich jetzt nicht anstrengte, dann
verlor ich einen essenziellen Teil meines alten Lebens, meiner Persönlichkeit,
vielleicht für immer.
»Für eine Weile haben mich die Ereignisse in meinem
Leben vielleicht etwas überwältigt. Aber ich bin mir inzwischen ganz sicher,
was ich will. Ich will unbedingt dieses Stück tanzen. Und wenn ich dafür ab
jetzt härter trainieren muss, mehr Zeit im Theater oder für die Proben
aufwenden soll, oder was auch immer, dann bin ich bereit, dies zu tun«, stellte
ich klar.
Der Regisseur lächelte. »Dann habe ich auch weiterhin
vollstes Vertrauen in Sie, Juliet. Selbstverständlich müssen Sie häufiger
trainieren um schnell wieder in Form zu kommen, aber das wissen Sie selbst ganz
genau, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Und Sie werden ein paar Kilo abnehmen müssen, das
Gesangstraining wieder beginnen und sich an einen neuen Partner gewöhnen. Sind
Sie auch damit einverstanden?«
Wieder stimmte ich ihm zu. »Wer ist denn mein neuer
Partner?«, fragte ich ihn neugierig. »Ist es jemand aus der Kompanie oder ein
Neuer?«
»Wir haben das Auswahlverfahren noch nicht
abgeschlossen, aber es wird am Ende drei Teams geben, eines als Nachrücker und
die anderen beiden für die Aufführungen hier in Boston und für die Tournee. Wer
mit wem zusammen spielt, werden wir erst entscheiden, wenn alle sechs Tänzer
feststehen. Bis dahin wird Erik sowohl in New York als auch in Boston spielen.
Die weibliche Hauptrolle übernimmt bis auf Weiteres Katie, und wir werden
sehen, wer schneller fit ist, um sie in Boston abzulösen, Sie oder Tasha.«
Überrascht sah ich auf. »Tasha ist wieder zurück?«
»Ja, sie hat sich von ihrer Verletzung erholt und ist
nun wieder mit dabei. Ein bisschen Trainingsrückstand hat sie noch, aber
innerhalb der nächsten zwei Wochen wird wohl wenigstens eine von Ihnen
einsatzbereit sein.«
Ich bemühte mich, mir meine Unruhe nicht anmerken zu
lassen. Mit Tashas Rückkehr und meiner schlechten Form würde ab sofort ein
Wettstreit zwischen uns beiden entbrennen. Wer die Rolle der Zubeida zuerst
beherrschte, genoss einen klaren Vorteil bei der weiteren Rollenvergabe.
Ich kannte meine Kollegin kaum, wir hatten uns nur bei
der Premiere gesehen und damals saß sie schlecht gelaunt hinter der Bühne und
trauerte der verpassten Chance hinterher. Nach einer Verletzung musste sie die
sichergeglaubte Hauptrolle abgeben und ich hatte die sich bietende Möglichkeit
dankbar ergriffen. Nun waren unsere Rollen vertauscht, meine Abwesenheit
erlaubte ihr, sich neue Hoffnungen auf die Hauptrolle zu machen.
Angespannt suchte ich zwischen den anderen Tänzern nach
ihrem Gesicht. Es war an der Zeit, die Konkurrenz genauer zu begutachten.
Was ich sah, machte mir Angst. Tasha mochte zwar
Nachholbedarf bei den Sprüngen haben, doch ihre Schritte und die Hebeübungen saßen
perfekt. Ihr geschmeidiger Körper war gut in Form, ohne Mühe beherrschte sie
die komplizierten Abfolgen. Sie war mir meilenweit voraus.
Dann bemerkte sie mich und winkte mir zu. »Hallo
Juliet! Na, hast du dich gut erholt oder bist du nur zum Zuschauen gekommen?«
»Ich habe heute wieder mit dem Training angefangen«,
antwortete ich vorsichtig. »Es dauert ein paar Tage, bis ich mich an alles gewöhnt
habe.«
Tasha kam an den Rand der Bühne und hockte sich neben
mich auf den Boden.»Ja, das habe ich auch gerade hinter mir. Verdammte
Schinderei. Aber nach ein paar Tagen, wenn die Schmerzen nachlassen, geht es
ganz gut. Bei mir ist es bloß diese versteckte Angst. Jedes Mal, wenn ich die
riskanteren Sprünge machen soll, ist sie wieder da. Dann denke ich immer, ich
könnte mich noch einmal verletzen. Wenn ich das in den Griff bekomme, bin ich
bereit für einen Auftritt. Das hat mir Robson auch bestätigt.«
Ich hörte ihr mit wachsender Besorgnis zu. Gegen eine
furchtlose Tasha hatte ich in meiner jetzigen Form nicht den Hauch einer
Chance. »Ich werde noch ein wenig üben«, erklärte ich ihr. »Aber wenn du Lust
hast, können wir nachher noch in eine Bar gehen?«
Zu meinem Bedauern lehnte sie ab. »Nein, ich habe noch
eine Gesangsstunde gebucht. Aber vielleicht ein anderes
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