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Ohne jede Spur

Ohne jede Spur

Titel: Ohne jede Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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Mr   Smith spielen sollte.
    Sie war ein aufgewecktes Kind, voller Willensstärke, Erwartungen und Ansprüche. Sie konnte in Rage geraten und eine geschlagene Stunde lang toben, wenn ihre Socken nicht den richtigen Pinkton hatten. Eines Sonntags hatte sie schmollend den ganzen Vormittag in ihrem Zimmer zugebracht, weil Sandra für die Küche neue Vorhänge gekauft hatte, ohne sie vorher zu Rate gezogen zu haben.
    Sandra und Jason aber liebten sie so, wie sie war.
    Er kümmerte sich um sie, Sandra kümmerte sich um sie, und gemeinsam garantierten sie ihrer Tochter eine Kindheit, die sie selbst so nie gehabt hatten, eine Kindheitgeprägt von Unschuld und tiefem Vertrauen. Sie genossen ihre großzügig verschenkten Zärtlichkeiten, ihr ansteckendes Lachen und stimmten darin überein, dass Ree immer an erster Stelle stand. Sie würden alles für sie tun.
    Alles.
    Jason warf einen Blick auf die Zivilstreife vor dem Haus und spürte, dass sich seine Hand unwillkürlich zur Faust ballte.
    «Sie ist hübsch.»
    «Mr   Smith ist ein Junge», erwiderte er spontan.
    «Nicht Mr   Smith. Die Polizistin. Sie hat schöne Haare.»
    Jason wandte sich seiner Tochter zu. Auf der einen Seite war ihr Mundwinkel mit Erdnussbutter verschmiert, auf der anderen mit Marmelade. Sie schaute ihn aus ihren großen braunen Augen an.
    «Du brauchst keine Geheimnisse vor mir zu haben», sagte er sanft.
    Ree legte das Sandwich ab. «Ich weiß, Daddy», entgegnete sie und wich seinem Blick aus. Appetitlos, wie es schien, aß sie zwei grüne Weintrauben. Die anderen drapierte sie um die weißen Blütenblätter des Gänseblümchens auf ihrem Teller. «Glaubst du, mit Mr   Smith ist alles in Ordnung?»
    «Katzen haben neun Leben.»
    «Mommys aber nicht.»
    Er wusste darauf nichts zu sagen, suchte nach Worten, mit denen er die Tochter hätte trösten können, fand aber keine. Ihm war bewusst, dass seine Hände wieder zuzittern angefangen hatten, und spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach.
    «Ich bin müde, Daddy», sagte Ree. «Ich will ins Bett.»
    «Okay.»
    Gemeinsam gingen sie nach oben.
     
    Jason sah Ree beim Zähneputzen zu. Er fragte sich, ob Sandra ihr ebenfalls zugesehen hätte.
    Auf der Bettkante sitzend, las er Ree zwei Geschichten vor. Er fragte sich, ob Sandra das Gleiche getan hätte.
    Er sang ein Lied, zog seiner Tochter die Decke bis zum Kinn und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Er fragte sich, ob Sandra es ebenso getan hätte.
    Als er schon in der Tür war, meldete sich Ree noch einmal zu Wort. Er drehte sich um, die Arme über der Brust verschränkt und die Finger um die Ellbogen geklammert, damit Ree nicht sehen konnte, wie seine Hände zitterten.
    «Willst du nicht noch ein bisschen bleiben, Daddy? Bis ich eingeschlafen bin?»
    «Okay.»
    «Gestern hat Mommy ‹Puff the Magic Dragon› für mich gesungen.»
    «Aha.»
    Ree strampelte unruhig mit den Beinen. «Ob sie Mr   Smith schon gefunden hat? Glaubst du, dass sie bald nach Hause kommt?»
    «Das hoffe ich.»
    Ree lag endlich still. «Daddy», flüsterte sie. «Daddy, ich habe ein Geheimnis.»
    Er holte tief Luft und versuchte, einen leichten Tonfall anzustimmen. «Wirklich? Denk daran, es gibt eine Daddy-Klausel.»
    «Eine Daddy-Klausel?»
    «Ja, einem Daddy darf man sein Geheimnis anvertrauen, egal, wie groß es ist. Er wird es hüten.»
    «Du bist mein Daddy.»
    «Ja, und glaube mir, bei mir sind Geheimnisse bestens aufgehoben.»
    Sie lächelte. Und dann, ganz die Tochter ihrer Mutter, drehte sie sich auf die Seite und schlief ohne ein weiteres Wort ein.
    Er wartete noch fünf Minuten, schlich dann aus dem Zimmer und hatte Mühe, nach unten zu kommen.
     
    Das Foto lag in einer der Schubladen in der Küche, zusammen mit der Taschenlampe, dem grünen Schraubenzieher, den restlichen Geburtstagskerzen und dem Weinglasschmuck, der nie zum Einsatz kam. Sandra hatte ihn schon oft wegen dieses winzigen Fotos in dem billig vergoldeten Rahmen gehänselt.
    «Was soll das, Jason? Du versteckst das Bild, als wäre es eins von einem früheren Schwarm. Du kannst es ruhig auf den Kaminsims stellen. Sie ist schließlich so etwas wie Familie für dich. Mir macht das nichts aus.»
    Aber die Frau auf dem Foto gehörte nicht zur Familie. Sie war alt – achtzig, neunzig, er konnte sich nicht recht erinnern. Sie saß in einem Schaukelstuhl, fast vollständig verschwunden unter einem Berg von Kleidungsstücken: einem dunkelblauen Herrenhemd aus Flanell, einer braunenCordhose mit Gürtel und

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