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Ohne jede Spur

Ohne jede Spur

Titel: Ohne jede Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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habe den Suburban jetzt fertig. Die Cops sind weg. Gleich ist Frühstückspause. Ich will meine Butterbrotdose holen und sehe Vito mit verschränkten Armen vor meinem Spind stehen.
    «Komm mit ins Büro. Sofort», sagt er.
    Auf Streitereien mit Vito lasse ich mich nicht ein. Ich pelle mich aus meinem Blaumann, weil ich seiner Miene ansehe, dass ich ihn nicht mehr brauche. Er sagt kein Wort, starrt mich die ganze Zeit nur an. Vito passt auf.
    Als ich mich gewaschen, das Sweatshirt über die Schulter geworfen und die Butterbrotdose zur Handgenommen habe, gibt Vito endlich einen Grunzlaut von sich und führt mich in sein Büro. Er weiß von meiner Vorstrafe. Als Arbeitgeber macht es ihm nichts aus, Sexualstraftäter einzustellen. In der Werkstatt habe ich mit der Kundschaft nichts zu tun. Außerdem ist er groß und stämmig und glaubt wahrscheinlich, Typen wie mich im Griff zu haben. Zugegeben, manchmal ist er richtig nett. Vielleicht hält er sich für einen Wohltäter und stellt deshalb Knackis ein, damit aus ihnen nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden, blabla. Ich weiß nicht.
    Vito hat mich nie spüren lassen, dass er womöglich schlecht von mir denkt, aber jetzt sehe ich’s – an seinen vor der Brust verschränkten Armen und dem Gesichtsausdruck, einer Mischung aus Enttäuschung und Ekel. Wir betreten sein vollgestopftes Büro. Er setzt sich hinter seinen Schreibtisch, auf dem mal der Staub gewischt werden müsste. Ich bleibe stehen, denn es gibt keinen zweiten Stuhl. Er holt sein Scheckbuch raus und fängt zu schreiben an.
    «Die Polizei war hier», sagt er, kurz angebunden.
    Ich nicke und zwinge mich dann, weil er mich nicht ansieht, zu sagen: «Ich weiß.»
    «Eine Frau wird vermisst. Du hast es bestimmt in den Nachrichten gehört.» Er wirft mir einen Blick zu.
    «Ja.»
    «Die Polizei wollte wissen, ob sie mit ihrem Wagen bei uns gewesen ist. Wollte wissen, ob du mit ihr oder mit ihrer vierjährigen Tochter Kontakt hattest.»
    Ich sage kein Wort.
    «Wie geht’s dir, Aidan?», brüllt er mich plötzlich an.
    «Gut», flüstere ich.
    «Besuchst deine Sitzungen, hältst dich an die Auflagen?»
    «Ja.»
    «Alkohol? Und sei’s nur mal ein Schlückchen? Sag mir die Wahrheit, Junge. Ich lasse mich nicht belügen. Das ist meine Stadt. Southie ist mein Geschäft. Wenn du jemandem in meiner Stadt was antust, geht das auch gegen mich.»
    «Ich bin sauber.»
    «Wirklich? Die Polizei sieht das anders.»
    Ich knete unwillkürlich meine Hände. Und schäme mich dafür. Da stehe ich, dreiundzwanzig Jahre alt und auf einen Haufen Dreck reduziert, einem Mann gegenüber, der mich mit einem Schlag seiner tellergroßen Pranke aus dem Verkehr ziehen könnte. Er sitzt. Ich stehe. Er hat die Macht. Ich bitte um Gnade.
    In diesem Moment hasse ich mein Leben. Und ich hasse Rachel, denn wenn sie nicht so hübsch, so frühreif, so
präsent
gewesen wäre, hätte ich mich nicht hinreißen lassen. Vielleicht hätte ich mich in eins dieser nuttigen Puschelpüppchen auf dem Football-Platz verknallt oder in dieses Mädchen mit den Hamsterzähnen, das im Feinkostladen um die Ecke arbeitet. Ich weiß nicht, in irgendeine, die besser zu einem Neunzehnjährigen passt, der unbedingt ficken möchte. Dann hätte ich jetzt nicht diese Scheiße am Hals. Im Gegenteil, man würde mich als Mann akzeptieren.
    «Ich habe nichts damit zu tun», höre ich mich selbst sagen.
    Vito grunzt nur und starrt mich aus seinen Knopfaugen an. Seine Arroganz geht mir gegen den Strich. Ich habe ein halbes Dutzend Lügendetektortests bestanden, was aber anscheinend ohne Belang ist. Verdammt, ich koche und fürchte, gleich wird irgendeiner hier in dieser beschissenen Bude dran glauben müssen.
    Er starrt mich an. Ich starre zurück und merke, dass er sieht, wie sauer ich bin, was ihn aber nur zu amüsieren scheint, und das macht mich noch saurer. Ich habe meine Hände zu Fäusten geballt. Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, ramm ich ihm eine davon ins Gesicht. Oder vielleicht nicht in sein Gesicht. Vielleicht vor die Wand, oder wenn nicht vor die Wand, dann durch die Fensterscheibe. Das Getöse und die Schmerzen werden mich wachrütteln. Ja, so etwas brauche ich jetzt: einen Wecker, der mich aus diesem Albtraum herausholt.
    Vito blinzelt mich an, grunzt und reißt den Scheck ab. «Dein letzter Wochenlohn», erklärt er. «Nimm. Das war’s dann.»
    Ich lasse meine Fäuste hängen.
    «Ich habe nichts damit zu tun», wiederhole ich.
    Vito schüttelt den Kopf.

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