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Ohne jede Spur

Ohne jede Spur

Titel: Ohne jede Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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«Egal. Du arbeitest hier, die verschwundene Frau bringt uns ihren Wagen. Ich leite ein Geschäft, Mann, kein Gruselkabinett. Ich habe nicht die Zeit, deine dreckige Wäsche zu waschen.»
    Er legt den Scheck auf den Tisch und schiebt ihn mir mit einem Finger zu. «Nimm oder lass es bleiben. Du bist jedenfalls gefeuert.»
    Also nehme ich ihn, klar. Ich höre, wie Vito meine Ex-Kollegen antreibt und wie sie zu tuscheln anfangen.
    Mir ist bewusst, dass die Sache längst nicht ausgestanden ist. Vito wird ihnen alles erzählen, und sie, die drei stämmigen Kerle, werden wissen, dass sie tagein, tagaus mit einem Perversen zusammengearbeitet haben. Eine Frau ist verschwunden, und diese Typen werden eine dieser Rechnungen aufstellen, wonach zwei plus zwei plötzlich fünf ergibt.
    Sie werden mir die Hölle heißmachen. Bald. Sehr bald.
    Auch ich versuche, ein bisschen zu rechnen, obwohl mir der Schädel dröhnt.
    Wenn ich weglaufe, schnappt mich die Polizei, und ich verschwinde lebenslang im Bau.
    Wenn ich bleibe, rückt mir dieser Schlägertrupp auf den Pelz, um mich zu kastrieren.
    Ich entscheide mich fürs Weglaufen, muss aber einsehen, dass ich mit Vitos lumpigem Scheck nicht weit komme. Ich spüre, wie der Druck in mir zunimmt, immer mehr, renne blindlings drauflos, über die Straße, vorbei an einer parfümierten Tussi, schneller, schneller. Das Parfüm hängt mir in der Nase, und durch meinen Kopf schwirren jede Menge miese Phantasien. Ich weiß, ich werde es nicht schaffen. Ich werde es nicht schaffen.
    Die große Erfolgsstory endet böse. Yes, Sir. Da läuft eine tickende Zeitbombe rum.

16.   Kapitel
    Wissen Sie, was das Wichtigste überhaupt ist? Wichtiger als Liebe, wichtiger als Geld und wichtiger als der Weltfriede? Das Gefühl, normal zu sein. Menschen wollen in ihren Emotionen, in ihren Erfahrungen und dem, was sie tun, so sein wie jeder andere.
    Dieser Wunsch treibt uns an. Die vielbeschäftigte Firmenanwältin, die sich abends ab elf in der einen oder anderen Bar mit Cocktails anschickert, irgendeine Pfeife vernascht und dann Punkt sechs aus dem Bett springt, die Spuren der Nacht abduscht und in ihren gediegenen Hosenanzug steigt. Oder die junge Hausfrau und Mutter, berühmt für ihren selbstgemachten Schokoladenkuchen und die geschmackvolle Einrichtung ihres Heims, die heimlich das Ritalin ihres kleinen Zappelphilipps schluckt, um durch den Tag zu kommen. Oder natürlich der hochgeachtete Gemeindevorsteher, der ein Verhältnis mit seinem Sekretär hat und regelmäßig in den Elf-Uhr-Nachrichten den Rest der Welt aufruft, mehr Verantwortung zu übernehmen.
    Wir verabscheuen das Gefühl, nicht richtig zu ticken, anders oder isoliert zu sein. Wir wollen uns normal fühlen
können, so wie jeder andere oder zumindest nach der Fasson, die uns von der T V-Werbung – sei es für Viagra, Botox oder Kreditinstitute – als vorbildlich angepriesen wird. Was vertuscht werden muss, wird vertuscht. Wir ignorieren, was zu ignorieren ist, um an der Illusion festhalten zu können, dass wir dem glücklichen Standard entsprechen.
    Und weil auch wir, Jason und ich, unbedingt diesem Standard entsprechen wollten, sind wir, jeder auf seine Weise, normal geworden. Vielleicht.
    Also nahm ich mir alle sechs bis neun Monate eine Nacht frei. Berufstätige Mütter brauchen schließlich auch mal eine Pause. Wie lieb und verständnisvoll von meinem Mann, dass er mir meinen kleinen «Wellness-Urlaub» gönnte. Er setzte sich derweil vor den Computer und hackte bis tief in die Nacht auf der Tastatur herum. Journalisten haben eben keine festen Arbeitszeiten, das weiß doch jeder. Wie lieb und verständnisvoll von mir, dass ich mich über den anstrengenden Job meines Mannes nie beklage.
    Wir haben uns gegenseitig Freiräume zuerkannt. Wir ignorierten, was ignoriert werden musste. Gleichzeitig standen wir Seite an Seite vorm Haus und schauten Ree dabei zu, wie sie auf ihrem ersten Dreirad über den Gehweg rollte. Wir applaudierten zu ihrem ersten Sprung ins Schwimmbecken, lachten, als sie zum ersten Mal ins eiskalte Wasser des Atlantik trippelte und schreiend über den Strand zurückgelaufen kam. Wir feierten unsere Tochter, priesen jedes Bäuerchen, jedes neu gelernte Wort und waren entzückt von ihrem Lachen. Wir liebten sie
für ihre Unschuld, ihren freien Geist, ihren Mut. Und vielleicht lernten wir über unsere Liebe zu ihr auch uns lieben.
    So hat es sich zumindest für mich angefühlt.
    Eines Nachts im Spätsommer, kurz vor Rees

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