Ohne jede Spur
erstem Kindergartentag und meinem Beginn als Aushilfslehrerin, waren wir, Jason und ich, noch lange auf. Er hatte eine CD von George Winston aufgelegt, irgendetwas Leises, Melodisches. Ree und ich stehen auf Rock ’n’ Roll, aber das nervt Jason. Klassische Musik ist eher nach seinem Geschmack. Er machte jedenfalls die Augen zu und versenkte sich in irgendeinen Zen-Zustand. Ich dachte, er schliefe, hörte ihn dann aber ganz leise summen.
Heute Abend saßen wir wieder auf unserem kleinen Sofa. Er hatte den linken Arm auf die Rückenlehne gelegt und streichelte meinen Nacken. Das tut er manchmal, ohne dass es ihm bewusst ist, wie mir scheint. Es sind gedankenlose kleine Berührungen. Beim ersten Mal war ich regelrecht erschrocken, als ich seine Finger spürte. Aber mit der Zeit habe ich gelernt, stillzuhalten und kein Wort zu sagen. Solange ich entspannt bin, streichelt er mich, und das gefällt mir. Ach was, ich brenne darauf, dass er mir mit den Fingerkuppen über die Schultern fährt und die Haare durchpflügt. Manchmal massiert er meine Kopfhaut, und ich winde mich wie ein Kätzchen.
Einmal habe ich versucht, seine Berührungen zu erwidern und ihm den Rücken zu kraulen. Kaum hatte ich meine Hand unter sein Hemd gesteckt, ist er aufgesprungen und aus dem Zimmer geeilt. Ich habe es nie wieder versucht.
Ein Ehemann, der neben seiner Frau auf dem Sofa sitzt und ihren Nacken streichelt … Willkommen in unserer kleinen Normalität.
«Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?», fragte ich ihn beiläufig. Im Fernsehen lief in dieser Nacht ein Film mit Harrison Ford, ein Psychothriller, in dem der Geist einer verstorbenen Frau sein Unwesen treibt.
«Vielleicht.»
«Ich glaube nicht daran.»
Er zupfte an meinem Ohrläppchen, handfest und für mich sehr erregend. Ich schmiegte mich an ihn, ohne ihn abzuschrecken, konnte es aber kaum mehr aushalten, stillzusitzen. Wer hätte gedacht, dass Ohrläppchen so empfänglich sind?
«Warum nicht?», fragte er und fuhr mir mit den Fingerspitzen über den Hals, auf und ab. Ein Ehemann berührt seine Frau. Eine Frau schmiegt sich an ihn. Normal. Vollkommen normal.
So normal, dass ich in manchen schlaflosen Nächten vor Kummer nicht mehr ein noch aus wusste und mir dann auch noch die Stimme meiner Mutter durch den Kopf ging mit ihrem:
«Ich weiß was, was du nicht weißt. Ich weiß was, was du nicht weißt.»
Trotzdem bin ich morgens aufgestanden und habe weitergemacht wie bisher.
Meine Mutter hat am Ende recht behalten. In der Blüte meiner einundzwanzig Jahre wurden mir tiefe Lebensweisheiten zuteil: Man kann lieben und dennoch unglaublich einsam sein. Man kann alles besitzen, was man sich je gewünscht hat, und erkennt schließlich, wie falsch diese
Wünsche waren. Man kann einen Mann haben, so klug, sexy und verständnisvoll wie meiner, und muss trotzdem auf ihn verzichten. Und man kann sich noch so sehr am Anblick der eigenen wunderschönen, bezaubernden Tochter erfreuen – irgendwann packt einen die Eifersucht, weil sie mehr geliebt wird als man selbst.
«Ich kann einfach nicht daran glauben», antwortete ich schließlich. «Niemand will sterben. Um die Angst davor zu verdrängen, denkt man sich hübsche Geschichten über ‹das ewige Leben› danach aus. Wer aber seinen Verstand benutzt, kann darüber nur mit dem Kopf schütteln. Ohne Traurigkeit gibt es keine Freude, und das heißt, ein Zustand ewiger Glückseligkeit wäre alles andere als glückselig, nämlich schrecklich öde. Es gäbe nichts, worauf man hinarbeiten oder sich freuen könnte.» Ich schaute ihm tief in die Augen. «Gerade du würdest das keinen Moment aushalten.»
Er lächelte müde. Er hatte sich an diesem Tag nicht rasiert. Mir gefiel es, wenn er die Stoppeln sprießen ließ, die so gut zu seinen dunkelbraunen Augen und den immer strubbeligen Haaren passten. Ich hatte immer schon eine Schwäche für den Macho-Look.
Ich wünschte so sehr, seine Stoppeln berühren zu dürfen, mit dem Finger über seinen Unterkiefer zu streichen, bis zur Halsschlagader, wo ich dann seinen Puls fühlen würde. Ich wünschte, ich könnte feststellen, ob sein Herz ebenso heftig schlug wie meins.
«Ich hatte einmal eine Geisterscheinung», sagte er.
«Wirklich? Wo?» Ich glaubte ihm nicht, und das merkte er.
Er lächelte wieder, ganz ungezwungen. «Ich bin in der Nähe eines alten Hauses aufgewachsen, von dem gesagt wurde, dass es verwunschen ist.»
«Also bist du hin, um nachzusehen? War’s eine
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