Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
behandelt, aber viele andere nicht. Die Lügen meines Großvaters hatten so gut gewirkt, dass Caren heute noch glaubte, der Saisonarbeiter sei schuld gewesen:
»Du hast alles einem Feldarbeiter in die Schuhe geschoben. Er hat seine Arbeit verloren. Du bist ein wichtiger Mann. Die Leute haben dir deine ganzen Lügen geglaubt. Sie wurden zur Wahrheit.«
»Sie sind immer noch die Wahrheit. Du kannst jeden fragen, der alt genug ist, um sich zu erinnern, er wird meine Geschichte wiederholen.«
Die Macht, ein Verbrechen zu begehen, und die Macht, damit davonzukommen. Ich fand die Vorstellung unerträglich, die Erinnerung an sein Verbrechen könnte ihm immer noch Freude bereiten, aber es war offensichtlich, dass er es noch genoss, dass die Leute ihm glaubten.
»Hat meine Mum es deiner Frau gesagt? Oder es versucht? Und sie wollte ihr nicht glauben?«
Er schüttelte den Kopf:
»Nein, meine Frau hat Tilde geglaubt. Aber sie hat sie dafür gehasst, dass sie die Wahrheit gesagt hat. Meine Lügen waren ihr lieber. Sie hat etwas länger gebraucht als die anderen, aber irgendwann hat sie gelernt, die Wahrheit zu vergessen. Das hätte Tilde auch tun sollen. Meine Frau und ich haben über sechzig Jahre lang auf dieser Farm gelebt, glücklich verheiratet und bei allen beliebt.«
»Was ist mit dem Kind passiert?«
Sobald ich die Frage aussprach, war mir die Antwort klar. Endlich verstand ich Mums überwältigendes Bedürfnis, Mia, ein adoptiertes Mädchen, zu beschützen.
»Wir haben es weggegeben.«
Ich fragte:
»Und jetzt, Großvater?«
Er legte einen Finger an die Lippen, genau wie meine Mum im Krankenhaus – das war der Schlüssel zu allem, danach sollte ich suchen. Diese Geste bedeutete nicht Schweigen, sondern Nachdenken. Ich fragte mich, ob er den Finger auch an die Lippen gelegt hatte, wenn er sich ein neues Szenario für seine Rollenspiele ausdachte und ihr damit zeigte, dass sie bald eine neue Fantasie ertragen musste. Deshalb hatte sie solche Angst vor dieser Geste. Schließlich ließ er den Finger sinken, steckte die Hände in die Taschen und gab sich gelassen:
»Jetzt? Nichts. Tilde ist in einer Anstalt. Niemand wird ihr ein Wort glauben. Sie ist krank. Sie wird immer krank sein. Sie redet von Trollen und anderem Unsinn. Die Sache ist vorbei. Sie ist ein ganzes Leben her.«
Für ihn war es ein Sieg, dass meine Mum in der Psychiatrie saß, dadurch konnte er sicher sein, dass er nie entlarvt wurde. Was konnte ich tun? Ich hatte hier nicht Vergeltung gesucht, sondern Informationen. Mir schossen Gewaltfantasien durch den Kopf, aber sie waren nicht echt, sondern nur Vorstellungen, noch dazu kindische, nur der Griff nach einer Lösung, während ich in Wahrheit machtlos war. Mein einziges Ziel war, Mum zu helfen. Es ging mir nicht um Rache, und sie stand mir auch nicht zu.
Als ich zur Tür ging, fiel mir noch eine Sache ein, ein fehlendes Detail, das vielleicht helfen konnte:
»Wie hast du dich genannt? Sie war Freja. Und du warst …?«
»Daniel.«
Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Ich blieb stehen und sah ihm in die Augen, als er hinzufügte:
»Sie hat ihr einziges Kind nach ihm benannt. Egal, was du über mich denkst, ein wenig muss es ihr hier gefallen haben.«
Es war eine Lüge, eine bösartige dahingeworfene Bemerkung – sie offenbarte seine Boshaftigkeit und seinen Einfallsreichtum, denn auch Bosheit kann einfallsreich sein. Mein Großvater war ein Geschichtenerzähler, ein meisterlicher sogar. Die Märchen waren ihm erst hilfreich, sein Verlangen zu befriedigen, und später dienten sie zur Selbsterhaltung.
Ich saß im Auto, hatte die Stirn gegen das Lenkrad gelegt und sagte mir, ich sollte wegfahren, den Wagen anlassen und losfahren, aber wenn ich die Augen schloss, sah ich den verbrannten Zahn, das Überbleibsel aus der Kindheit meiner Mum, das sie nicht vernichten konnte, wie sehr sie es auch versuchte, und ich stieg aus, ging zum Kofferraum und holte den Benzinkanister.
Bevor mich der Mut verließ, folgte ich meinen Fußspuren zurück zur Birkenhütte. Mit einem Stock schob ich den Schnee vom Dach und beeilte mich dabei, weil ich dachte, mein Großvater könnte jeden Moment zurückkommen. Ich goss das Benzin auf die Holzspäne und die Kuckucksuhren, über das Werkzeug und die Werkbank, über die Schutzkleidung und unter den Stahltank. Auf der Schwelle versuchte ich mit zitternden Händen, ein Streichholz anzuzünden. Als es mir endlich gelungen war, fragte ich mich, ob ich gerade
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