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Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Titel: Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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unterbrechen sollen. Erzähl bitte weiter, was passiert ist.«
    Meine Bitte konnte ihn nicht ganz besänftigen, und er beendete seinen kurzen Abriss knapp:
    »Deine Mutter hatte den Kopf voller Träume. Sie malte sich ein Märchenleben mit ihrem Geliebten aus, glücklich bis an ihr Ende, nur die beiden auf irgendeinem Hof. Zum Teufel mit Anstand und Ordnung! Der Arbeiter hat ihr romantische Lügen erzählt, damit sie mit ihm schlief, und sie hat ihm geglaubt. Sie war naiv. Als die Affäre beendet war, wurde der Arbeiter weggeschickt. Tilde hat versucht, sich im See zu ertränken. Sie wurde gerettet und hat danach Wochen im Bett gelegen. Ihr Körper hat sich erholt, aber nicht ihr Verstand. Die Leute mieden sie. Sie wurde zur Außenseiterin. In der Schule wollten ihre Freundinnen nichts mehr mit ihr zu tun haben. Die Lehrer tratschten über sie. Was hatte sie denn erwartet? Sie hat mich schrecklich blamiert. Es war eine Schande. Meine Träume von einem Posten in der Landesregierung konnte ich begraben. Nach dem Skandal hatte ich keine Chance mehr. Wer hätte einen Politiker mit solch einer Tochter gewählt? Wie will ich für andere Menschen Gesetze machen, wenn ich mein eigenes Kind nicht erziehen kann? Ich konnte ihr nicht einfach verzeihen. Deshalb ist sie gegangen. Für Reue ist es zu spät. Du kannst von Glück sagen, dass sie erst diesen Sommer einen Zusammenbruch hatte und nicht früher, als du noch ein Kind warst. Es war nur eine Frage der Zeit.«
    Es war erstaunlich, dass meine Mum mich mit so viel Liebe und Zuneigung erzogen hatte – von diesem Mann kannte sie die Gefühle sicher nicht.
    Obwohl von der Stunde, die mein Großvater mir zugestanden hatte, erst vierzig Minuten verstrichen waren, beendete er das Gespräch:
    »Du musst mich jetzt entschuldigen. Meine Gäste kommen bald.«
    Im dämmrigen Flur bedeutete er mir zu warten. Er nahm einen Federhalter in einem Tintenfässchen aus einer Vitrine und schrieb seine Telefonnummer auf eine Karte:
    »Komm bitte nicht noch einmal ungebeten her. Wenn du Fragen hast, ruf an. Es ist traurig, dass es so sein muss. Wir sind zwar Familie. Aber keine richtige Familie. Tilde und ich führen getrennte Leben. Sie hat es sich so ausgesucht. Jetzt muss sie mit ihrer Entscheidung leben. Und du als ihr Sohn auch.«
    Draußen am Auto drehte ich mich um, um einen letzten Blick auf das Haus zu werfen. Mein Großvater stand am Fenster. Er ließ den Vorhang fallen und unterstrich damit, dass unser Abschied endgültig war. Ich sollte begreifen, dass wir uns nie wiedersehen würden. Als ich meine Schlüssel in die Hand nahm, fiel mir an dem Daumen, mit dem ich seine Karte angefasst hatte, ein Tintenfleck auf. Im Tageslicht sah ich, dass die Tinte nicht schwarz war, sondern hellbraun – die gleiche ungewöhnliche Farbe, mit der meine Mum ihr fiktives Tagebuch geschrieben hatte.
    In einer Stadt in der Nähe zog ich in die einzige verfügbare Unterkunft, ein Zimmer in einer Familienpension. Ich setzte mich aufs Bett und betrachtete den braunen Tintenfleck auf meinem Daumen. Nach einer Dusche und einem kalten Essen aus Kartoffelsalat, Roggenbrot und Schinken rief ich meinen Dad an. Er wusste nichts über eine angebliche Affäre von Mum und dem jungen Feldarbeiter. Genau wie ich zweifelte er am Gedächtnis meines Großvaters und wiederholte, Freja habe die Affäre gehabt. Ich bat ihn um den Namen von Mums alter Schule.
    Die Schule am Stadtrand wirkte neu, das alte Gebäude hatte man offenbar abgerissen. Ich fürchtete, es könnte zu viel Zeit vergangen sein. Der Unterricht an diesem Tag war vorbei, auf dem Gelände waren keine Kinder mehr. Ich rüttelte am Tor und ging davon aus, es würde verschlossen sein, aber es ließ sich öffnen. Ich kam mir vor wie ein Eindringling, als ich durch die Flure lief. Als ich leises Singen hörte, folgte ich den Klängen nach oben. Zwei Lehrerinnen leiteten gerade eine Chor- AG mit einer kleinen Schülergruppe. Ich klopfte an, erklärte kurz, dass ich aus England kam und Informationen über meine Mutter suchte, die vor fünfzig Jahren diese Schule besucht hatte. Die Lehrerinnen waren jung und erst seit ein paar Jahren hier. Sie erklärten mir, dass sie mir nicht helfen konnten, weil ich nicht berechtigt war, mir die Schulunterlagen anzusehen. Niedergeschlagen blieb ich in der Tür stehen; ich hatte keine Ahnung, wie ich dieses Hindernis überwinden konnte. Eine der Frauen hatte Mitleid mit mir:
    »Eine Lehrerin von damals lebt noch. Sie arbeitet

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