Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
nirgends zu sehen. Ich hatte Angst. Es waren Sommerferien. Sie hätte irgendwo draußen sein müssen. Ich gewöhnte mir morgens und abends Spaziergänge durch die Felder an, starrte zu Håkans Hof hinüber und hoffte, ich würde Mia auf der Veranda oder am Fenster ihres Zimmers sehen. Aber sie war nie da.
Eine Woche später erfuhr ich schließlich, was los war. Ich war früh aufgestanden und arbeitete an unseren Gästeunterkünften. Als ich auf einer langen Leiter die Scheunenwände strich, sah ich Håkans glänzenden silbernen Saab mit einem Wahnsinnstempo näher kommen. Håkan fährt keinen gefährlichen Angeberstil. Ich hatte noch nie gesehen, dass er so rücksichtslos fährt. Es musste ein Notfall sein. Ich dachte, er würde an unserem Hof vorbeirasen, und war überrascht, als er in unsere Einfahrt einbog, aus dem Wagen sprang und zum Haus lief, ohne mich zu sehen. Ich klammerte mich fest an die Leiter, damit ich nicht herunterfiel, weil es nur eine Erklärung geben konnte: Mia war etwas Schreckliches zugestoßen.
Als ich schnell von der Leiter stieg, hörte ich laute Stimmen. Durch das Fenster konnte ich Chris und Håkan in der Küche sehen. Håkan drehte sich um, schoss aus dem Haus und lief zu seinem Auto. Ich ließ die Farbe fallen, rannte hinterher und drückte eine Hand gegen die Scheibe, wobei ich gelbe Fingerabdrücke auf dem Glas hinterließ. Ich musste es selbst hören. Er fuhr das Fenster herunter und sagte:
»Mia ist verschwunden!«
Danach weiß ich nur noch, dass ich auf der Kiesauffahrt lag und in den Himmel schaute. Chris hatte meinen Kopf auf seinen Schoß gebettet. Håkans Auto war verschwunden. Ich war ohnmächtig geworden, aber nur kurz. Sofort fiel mir Mia wieder ein, und ich hoffte, es wäre nur ein Albtraum gewesen, vielleicht war ich von der Leiter gefallen und hatte mir den Kopf angeschlagen, vielleicht war Mia in Sicherheit – aber ich kannte die Wahrheit, ich hatte sie immer gekannt. Meine Feinde werden behaupten, meine Ohnmacht sei ein Wendepunkt gewesen. Ich hätte den Verstand verloren, und man könnte nicht mehr ernst nehmen, was ich danach gesagt oder getan habe. Kranke Worte aus einem kranken Hirn. Aber ich sage dir, wie es ist. Die Ohnmacht hatte nichts zu bedeuten. Ja, sie hat mich schwach und verletzlich wirken lassen, aber ich bin nicht plötzlich wahnsinnig geworden, mich hat das Gefühl überwältigt, versagt zu haben. Zwei Monate lang hatte ich gespürt, dass Mia in Gefahr war, und ich hatte nichts getan, um sie zu beschützen.
Håkan hat erzählt, was angeblich in der Nacht passiert ist, in der Mia verschwand. Seine Erklärung war:
Sie hatten sich gestritten.
Mia war wütend geworden.
Sie hatte gewartet, bis ihre Eltern schliefen, zwei Taschen gepackt und war mitten in der Nacht weggegangen, ohne Abschied oder einen Brief.
Das hat er uns erzählt. Das hat er den anderen erzählt, und die anderen haben es ihm geglaubt.
Stellan, der Kommissar, Håkans bester Freund, kam auf seinen Hof. Ich war zu der Zeit zufällig spazieren. Mir ist sein Auto in Håkans Auffahrt aufgefallen. Ich habe auf die Uhr gesehen. Stellan, der Kommissar, ist nach siebzehn Minuten wieder gegangen, nachdem die beiden sich die Hand geschüttelt hatten. Eine siebzehn Minuten lange Ermittlung, die mit einem Schulterklopfen endete.
Am nächsten Tag sah Håkan auf unserem Hof vorbei und erzählte, die Polizei in den Großstädten – Malmö, Göteborg, Stockholm – sei informiert worden. Sie suchten nach Mia. Aber allzu viel konnten sie nicht unternehmen. Sie war kein Kind mehr, und es war nicht einfach, Ausreißer zu finden. Als Håkan uns das erzählt hatte, ließ er den Kopf hängen, weil ihm vor Kummer die Worte fehlten, zumindest sollten wir das glauben. Chris tröstete ihn, er sagte, Mia würde sicher zurückkommen, so etwas würden Teenager nun einmal machen. Das Gespräch war nicht echt! Es war nur Theater – die beiden haben mir etwas vorgespielt. Håkan hat die Rolle des untröstlichen Vaters übernommen, Chris spielte den Stichwortgeber. Nur war es mehr als eine Farce, sie wollten mich damit testen. Würde ich zu Håkan gehen und ihn in den Arm nehmen? Das konnte ich nicht. Ich blieb in der Zimmerecke, so weit wie möglich weg von ihm. Wäre ich strategisch vorgegangen und geschickt gewesen, hätte ich ihn umarmt und falsche Tränen über seine falsche Trauer vergossen, aber so verlogen wie er kann ich nicht sein. Stattdessen habe ich ihm auf den Kopf zugesagt, dass ich ihm nicht
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