Ohne Kuss ins Bett
blöd hältst du mich eigentlich? »Ich glaube nicht an Gespenster. Ich glaube an gesunde Ernährung und an eine gute Schulbildung, und deswegen werde ich mich darauf konzentrieren.«
Mrs Crumb senkte die Stimme: »Manches, was Sie nicht glauben, ist dennoch wahr.«
»Wie, zum Beispiel, das Zeug da, das Sie den Kindern zu essen geben.« Andie warf einen Blick auf die orangefarbenen Schmierspuren, die in Alice ᾽ Schüsselchen übrig geblieben waren, nachdem sie die letzte Nudel verspeist hatte. »Ich habe noch nie Makkaroni und Käse von solch perverser Farbe gesehen. Leuchtet das Zeug in der Dunkelheit?«
Mrs Crumb erhob sich und sammelte die beiden Schüsselchen ein. »Sie und ich, wir sollten versuchen, miteinander auszukommen. Sie werden mich brauchen.«
Andie betrachtete die kalten kleinen Augen der alten Frau. O Gott, hoffentlich nicht . »Bitte, ich würde jetzt gern mein Zimmer sehen.«
»Ich werde Ihnen alles zeigen«, erwiderte Mrs Crumb, die anscheinend wieder Oberwasser verspürte, voller Trotz. »Ich zeig Ihnen gleich alles.«
»Nur mein Zimmer«, entgegnete Andie, aber Mrs Crumb eilte bereits auf eine Tür im Hintergrund der Küche zu, und so lächelte Andie den Kindern noch einmal zu, nahm ihren Koffer und folgte der Haushälterin.
Es würde ein langer, anstrengender Monat werden.
Andie folgte Mrs Crumb in einen kurzen, düsteren Korridor mit ausgeblichenen Tapeten und abgenutztem Holzboden. Die Haushälterin wandte sich zur Seite, um eine enge Treppe mit ebenso abgenutzten Holzstufen hinaufzusteigen, wahrscheinlich die Dienstbotentreppe, und drehte sich auf der ersten Stufe zu Andie um. Ihre wässrigen, hervorquellenden Augen befanden sich nun auf gleicher Höhe mit Andies Augen.
»Sie nehmen mir das hoffentlich nicht übel«, meinte sie. »Sicherlich hat Mr Archer nur vergessen, mir zu sagen …« Sie blickte mit finster gerunzelter Stirn an Andie vorbei. »Was tust du denn hier draußen?«, fragte sie scharf, und Andie wandte sich um und erblickte Alice, die hinter ihr stand und noch kleiner und schmaler wirkte als in der Küche; der dünne Hals war unter all ihren Kostbarkeiten verborgen wie unter einer Rüstung, und sie trug noch immer den Kopfhörer.
»Hallo, Alice«, sagte Andie.
Die tiefen Schatten unter den Augen und den Wangenknochen des kleinen Mädchens ließen sein Gesichtchen fast wie einen Totenkopf wirken. Sie starrte Andie eine Minute lang an, dann drückte sie sich an ihr und an Mrs Crumb vorbei, um die Treppe hinaufzusteigen. Sie hatte etwas unter ihren Arm geklemmt.
Als Andie die Hand ausstreckte und ihre Wange sanft berührte, schrak Alice zurück und kletterte rasch die Treppe hinauf.
»Ist das eine Puppe?«, fragte Andie, und Alice blieb einige Stufen über ihr stehen und nahm ihren Kopfhörer ab.
Sie hob eine ausgestopfte Puppe mit bläulich weißem Kopf in die Höhe, die einen dreifach abgesetzten, schmutzig braunen Rock trug, der mit einem goldfarbenen Bändchen als Gürtel um den klumpigen Bauch befestigt war. Gesicht und Kleid dieses uralten, unförmigen Dings sahen aus wie von Motten zerfressen.
»Das ist Jessica«, erklärte Alice und ging weiter die Treppe hinauf.
Sie ist tot , dachte Andie.
»Sie will sie einfach nicht wegwerfen«, stellte Mrs Crumb in scharfem Flüsterton fest. »Ich habe ihr andere Puppen geschenkt, aber sie will nur diese eine. Das ist doch nicht richtig. Wir sollten da etwas unternehmen, wir beide.«
Andie blickte Alice nach, die mit geradem Rücken und ohne zu zaudern die Treppe weiter hinaufstieg, obwohl sie die Bemerkung der Haushälterin gehört haben musste. »Wenn ihr an dieser Puppe etwas liegt, dann soll sie sie auch behalten.«
Mrs Crumb holte scharf Luft und schüttelte den Kopf, dann stieg sie ebenfalls die Treppe hinauf.
Im ersten Stock befand sich wieder ein kurzer Korridor, doch Mrs Crumb umrundete das Treppengeländer und schickte sich an, die Treppe weiter hinaufzusteigen. »Die Kinderzimmer sind im zweiten Stock. Wegen des Lärms.«
»Lärm?«, fragte Andie und folgte der vollkommen geräuschlosen Alice, doch Mrs Crumb gab keine weiteren Erklärungen ab, bis sie den Treppenabsatz des zweiten Stocks erreicht hatten, der in eine weitere enge, kleine Diele mündete.
»Hier ist das Badezimmer«, sagte sie stolz und öffnete eine Tür direkt der Treppe gegenüber. Sie gab den Blick auf einen schön gestalteten Waschraum mit solidem Holzdielenboden frei, in dessen Mitte sich eine frei stehende Dusche mit
Weitere Kostenlose Bücher