Ohne Mann bin ich wenigstens nicht einsam
Referate zu perfektionieren, während draußen das Leben tobte.
Es war Samstag. Markus war unterwegs, und ich wollte mich mit Christoph treffen, um mein Brautkleid zu kaufen. Tante Margit, die Schwester meiner Mutter, war zu Besuch gekommen, und die beiden saßen in der Küche und tranken Kaffee. Ich verabschiedete mich und nahm den kürzeren Weg zum Balkon des Wohnzimmers, um nach draußen zu kommen. Nach ein paar Minuten fiel mir ein, dass ich meine Fahrkarte für die S-Bahn vergessen hatte, und ich machte auf dem Absatz kehrt. Als ich durch die Balkontür wieder ins Wohnzimmer trat, hörte ich, wie meine Mutter gerade meinen Namen sagte. Ich verhielt mich leise und lauschte. »… und eigentlich ist sie gescheiter und scharfsinniger als Markus.«
»Aber er war doch auf dem Gymnasium und studiert jetzt«, warf Tante Margit ein, »und Evelyn hat die Realschule gemacht.«
»Das hat nichts zu sagen. Sie hat kaum gelernt und trotzdem immer Einsen und Zweien gehabt. Markus hat gelernt und gelernt, jeden Tag stundenlang. Ich weiß ja, dass ich nicht besonders klug bin, aber eines weiß ich jetzt: Klugheit ist nicht alles. Ehrgeiz und Fleiß bringen dich im Leben viel weiter. Markus hat sich alles hart erarbeitet. Evelyn hätte alles in den Schoß fallen können, aber sie hat keinen Biss. Aus ihr hätte was Großes werden können. Weißt du, manchmal lachen Jürgen und ich darüber, wie wir so kluge Kinder kriegen konnten.«
Ich habe jedes Wort dieses Gesprächs zwischen meiner Mutter und ihrer Schwester gespeichert, vergesse es manch mal über Monate oder auch Jahre, aber es kommt immer wieder mal hoch und führt mir vor Augen, was meine Mutter wirklich über mich denkt – und die Frage, ob ich meine Chancen mit Füßen getreten habe, hat sich tief in mein Gewissen gebrannt. Sie hatte mich all die Jahre belogen. War es nicht eine Lüge, mich in dem Glauben zu lassen, ich sei mittelmäßig? Schließlich hatte sie nichts von mir gefordert und mich für meine Zensuren auch nie ge lobt. Ich wuchs mit der unausgesprochenen Lüge auf, Mittelmaß zu sein, und blieb in dem Glauben, dass es keinen Sinn machte, mich ins Zeug zu legen.
»Ja, schrecklich, nicht wahr?«, hörte ich sie gerade in den Telefonhörer sagen. Jede Wette, dass sie über mich redeten.
»Ja, ja. Das meine ich auch. Ich weiß nicht, ob sie heute zur Arbeit geht, das habe ich sie noch gar nicht gefragt. Vielleicht sollte ich sie lieber zum Arzt schicken, gell. Ein paar Tage Krankschreibung sind sicher nicht verkehrt.«
War sie jetzt total übergeschnappt? Ich war doch keine fünf mehr. Zu Hause zu bleiben, hatte ich gar nicht vorgehabt, aber jetzt würde ich das erst recht nicht tun. Ich liebte meine Mutter, und sie war ein gutherziger Mensch, aber manchmal mussten Markus und ich sie daran erinnern, dass wir erwachsen waren. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr, die ich gestern Abend auf den Nachttisch gelegt hatte. Fünf vor neun! Ich erschrak. Dann fiel mir ein, dass ich mich bis zum Morgengrauen hin und her gewälzt hatte und erst vor ein paar Stunden eingeschlafen war. Mein Kopf und meine Glieder fühlten sich schwer an. Mein Mund war trocken, und als mir meine Lage in ihrem vollen Ausmaß wieder bewusst wurde, versetzte es mir einen Dolchstoß ins Herz. Die Stimme meiner Mutter war nun nicht mehr zu hören. Stattdessen vernahm ich aus der Küche das Klappern von Geschirr. Ich quälte mich aus dem Bett, schlurfte ins Bad und putzte mir die Zähne. Sogar dabei musste ich an Christoph denken. Er hatte darüber immer den Kopf geschüttelt und gemeint, es sei idiotisch, sich die Zähne vor dem Frühstück zu putzen, weil man mit dem Frühstück sowieso wieder alles versaue. Christoph hatte das natürlich anders gesagt, nämlich zu nichtemachen . Also mache es doch mehr Sinn, sich die Zähne danach zu putzen. Ich blieb bei meinem Ritual und er bei seinem.
Blöderweise konnte ich nicht verhindern, dass ich mir die sinnloseste aller Fragen stellte: Was würden wir jetzt gerade machen, wenn wir uns gestern nicht getrennt hätten? O Gott, erbärmlich. Ich ertappte mich dabei, dass ich langsam in einen Strudel von Selbstmitleid geriet. Das wollte ich nun doch nicht, weil es mich bloß lähmen würde.
Mein Platz auf dem Küchentisch war bereits perfekt gedeckt. Meine Mutter machte es so, wie man es nur aus Hotels kannte: weiße Damasttischdecke und eine umgedrehte Kaffeetasse.
Sie hatte noch eine Eigenart entwickelt: Seit sie und mein Vater in Rente
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