Ohne Mann bin ich wenigstens nicht einsam
waren, gab es Punkt zwölf Uhr Essen. Ein Spielraum von plus oder minus zwei Minuten war für sie gerade noch hinnehmbar.
»Guten Morgen«, sagte ich und setzte mich an den Tisch. Mein Vater blickte von seiner Zeitung auf und nahm die Brille ab. »Guten Morgen«, meinte er leicht vorwurfsvoll, mit einem Seitenblick auf die Wanduhr. »Du bist ganz schön spät dran. Fängst du nicht um zehn Uhr an?«
»Doch. Ich trinke nur schnell eine Tasse Kaffee.«
»Gut, wenn du dich unbedingt hetzen willst, bitte.«
Er setzte die Brille wieder auf und las weiter in seiner Zeitung. Déjà-vu: Diese Szene gab es früher so oder so ähnlich, wenn ich zur Schule musste.
Meine Mutter drehte die Tasse um und schenkte mir Kaffee ein. »Magst du wirklich nichts essen?«, bohrte sie nach.
Ich schüttelte den Kopf. Meine Augen füllten sich mit Tränen, diesmal allerdings nicht wegen Christoph, sondern wegen des scharfen Geruchs, der in der Küche hing. Mein Blick fiel auf den Berg gewürfelter Zwiebeln neben dem Herd. »Kochst du schon das Mittagessen?«
»Ja, es gibt heute Gulasch. Du, es braucht schon seine Zeit, bis das Fleisch gar ist. Dazu gibt’s Semmelknödeln mit Speck.«
»Selbst gemacht?«, fragte ich, Interesse heuchelnd.
Sie sah mich an, als hätte ich ihr gerade den Tod gewünscht. »Selbstverständlich«, meinte sie pikiert, »oder habe ich schon jemals Knödel aus dem Kochbeutel gemacht?«
»Nein, nie. Tut mir leid.«
Wenn ich hier länger bliebe, würde ich bald zehn Kilo zunehmen. Die beiden ernährten sich immer noch wie zuzeiten des Wirtschaftswunders. Unnötig zu erwähnen, dass das Ganze vielleicht auch psychische Spuren zurücklassen würde. Es war nicht einfach, mit meinen Eltern unter einem Dach zu leben.
»Ich hab den Markus angerufen«, erzählte meine Mutter, während sie sich setzte. »Jürgen, jetzt leg halt mal die Zeitung weg. Und du, Evelyn, magst sicher nichts essen? Du bist ja so dünn um die Hüften. Soll ich dir Spiegeleier machen? Oder magst du vielleicht Weißwürste?«
»Nein, wirklich nicht, danke.«
»Der Markus ist ganz traurig wegen dir und Christoph. Aber wenn du nichts isst, dann wirst du bis zum Abendessen halb verhungert sein. Es ist vielleicht besser, wenn du nicht zur Arbeit gehst. Ruh dich von dem Schock erst mal aus.«
»Natürlich werde ich zur Arbeit gehen, Mutter. Wir kön nen bei Problemen nicht den Kopf in den Sand stecken. Ich muss schließlich weiterleben.«
Sie warf mir einen beleidigten Blick zu. »Ganz wie du meinst. Ich habe es nur gut gemeint.«
»Ich weiß, dass du es gut gemeint hast. Trotzdem.«
»Weißt du, dass Sieglinde sich auch scheiden lassen hat?«
»Hat scheiden lassen«, verbesserte ich sie. »Und wer ist überhaupt Sieglinde?«
»Sieglinde Behrens.«
»Noch nie gehört.«
»Die Tochter von Herrn und Frau Behrens.« Sie schob sich ein Stück Breze in den Mund.
»Sag mal, Mutter, willst du mich veralbern?«
Sie schüttelte ihre grauen Locken hin und her und warf meinem Vater einen Blick zu. Der lächelte nur kurz und widmete sich dann wieder seiner Zeitung.
»Als du ein Kind warst, hast du den Hund von Herrn und Frau Behrens Gassi geführt und hast damit dein Taschengeld aufgebessert. Weißt du nicht mehr?«
»Ach so, ja. Und die haben eine Tochter?« Mein Gott, was für Gespräche führte ich da eigentlich? Ich fühlte mich wie achtzig.
»Ja, die Sieglinde. Sie ist sechsundzwanzig, glaube ich. Stell dir vor, hat vor einem Jahr geheiratet, und jetzt steht die Scheidung ins Haus.«
»Nein?!« Ich tat erstaunt, und sie nickte, mit einem so schockierten Gesichtsausdruck, als hätte sie die schlimme Neuigkeit gerade erst erfahren.
»Aber das ist noch nicht das Schlimmste.«
»Lass mich raten. Sie bekommt ein Kind von einem anderen Mann, der ist der beste Freund von ihrem Ehemann, und sie haben sein Konto geplündert und sind auf dem Weg nach Brasilien.«
Sie sah mich besorgt an. Sogar mein Vater hielt kurz inne. »Als deine Mutter muss ich dir sagen, dass ich über deine lebhafte Fantasie bestürzt bin. Nein, nichts davon trifft zu. Sieglinde ist … Nun ja … Wie soll ich nur sagen?« Sie lachte leicht hysterisch auf. »Sie fühlt sich zum anderen Geschlecht hingezogen, wenn du verstehst, was ich meine. Du verstehst doch? Sie ist eine Lesbierin.«
»Na und?«
Meine Eltern sahen sich an. »Wahrscheinlich liegt’s an den Nerven«, sagte sie zu meinem Vater, als sei ich gar nicht anwesend.
»Eine Lesbierin kann schließlich keine
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