Ohne Mann bin ich wenigstens nicht einsam
Kinder kriegen«, sagte mein Vater und schaute mich an, als hätte er mir gerade ein physikalisches Gesetz erklärt.
Ich beschloss, die Sache aufzuklären. »Natürlich kann eine homosexuelle Frau ein Kind bekommen.«
Meine Mutter sah mich grimmig an. »Das ist uns durch aus klar. Wir besitzen jedenfalls Grundkenntnisse, was den menschlichen Körper betrifft. Es ist nur so, dass eine Lesbierin nicht einfach so hingehen kann und ein Kind zeugen.«
Ich zuckte die Schultern und beschloss, sie ein bisschen auf den Arm zu nehmen. »Na ja, sie kann einen Kerl für eine Nacht abschleppen oder sich für künstliche Befruchtung entscheiden.«
»So, so«, murmelte sie vor sich hin, »und wenn das Kind fragt, wer sein Vater ist, sagt sie entweder: Ein Kerl, von dem ich nur den Vornamen kenne, oder sie sagt: einer aus’m Reagenz glas .«
»Und im letzten Fall kennt sie nicht mal den Vor namen«, ergänzte ich.
Sie warf mir einen leicht amüsierten Seitenblick zu und meinte: »Genau.«
»Sag mal, kannst du mir hundert Euro leihen?«
Sie sah mich erstaunt an und sagte nichts.
»Ich habe gestern meinen Geldbeutel nicht mitge nommen.«
»Warum nicht?«
Ich zwinkerte genervt mit den Augen. »Na, weil ich nicht daran gedacht habe, ihn einzustecken.«
Sie stand auf, um sich wieder dem Mittagessen zuzuwenden. »Natürlich gebe ich dir hundert Euro. Wenn’s sein muss sogar hundertundeinen.«
Mein Vater faltete die Zeitung zusammen und mischte sich ein: »Später muss ich sowieso in die Stadt fahren, da schau ich mal bei Christoph vorbei und hole deinen Geldbeutel.«
War das gut? Irgendwie hörte sich das leicht bedrohlich an. Aber von meinem Vater ging normalerweise keine Gefahr aus. Er war ein pflegeleichtes Lämmchen.
»Vielleicht sollte ich meinen Geldbeutel nach der Arbeit lieber selbst holen«, überlegte ich laut. »Das ist doch blöd, wenn ich meinen Vater vorschicke, so, als wäre ich zehn Jahre alt.«
»Wenn du meinst.« Mein Vater zuckte die Schultern. »Ich persönlich sehe das nicht so. Wenn ich für dich gehe, gibst du ihm damit zu verstehen, dass dir nichts daran liegt, ihn zu sehen. Es ist doch viel unreifer, sich jetzt ewig den Kopf darüber zu zerbrechen, ob das unreif ist.«
Nun war ich etwas durcheinander. Aber auf eine merkwürdige Art klang es schlüssig, deshalb sagte ich halbherzig: »Na gut.«
Eine knappe Stunde später betrat ich die Buchhandlung Stendhal. Frau Wenzel hatte ihren Laden so genannt, weil Rot und Schwarz das Lieblingsbuch ihres Vaters gewe sen war und der erste Klassiker, den sie von ihm geschenkt bekommen hatte. Manche Kunden nannten sie Frau Stendhal, weil sie dachten, die Buchhandlung würde ihren Namen tragen.
Ein Kunde stöberte gerade in der Krimiabteilung herum, als ich eintrat. Frau Wenzel sortierte die bestellten Bü cher in das Regal über der Kasse. Wir taten das alphabe tisch, nach den Familiennamen der Kunden, die sie bestellt hatten. Einige davon blieben lange dort stehen, weil die Leute manchmal Bücher bestellten, die sie dann nicht ab holten.
»Hallo.«
Sie wandte sich um. »Hallo, Frau Fritsch. Wäre ich eine zickige Chefin, würde ich sagen, dass du fünf Minuten zu spät bist.« Wir nannten uns beim Nachnamen, duzten uns aber. Das war einfach so entstanden, von Anfang an.
»Tut mir leid, aber ich bin heute mit der S-Bahn ge kommen.«
»Mit der S-Bahn?«, meinte sie belustigt. »Du wohnst doch beinahe um die Ecke. Bist du übers Wochenende um gezogen?«
»Ja, gewissermaßen.« Ich ging an ihr vorbei und verschwand im Büro hinter den Reiseführern. Es dauerte nicht lange, bis ich ihre Schritte hinter mir hörte. »Du bist wirklich umgezogen? Hast du mir davon erzählt? Wahrscheinlich habe ich es vergessen. Seit ich sechzig bin, werde ich vergesslich.« Frau Wenzel war zweiundsechzig, sah aber zehn Jahre jünger aus. Das lag wohl auch daran, dass sie ein weitgehend sorgenfreies Leben gehabt hatte. Eine Kindheit in wohlhabendem Elternhaus, eine intakte Ehe und niemals finanzielle oder gesundheitliche Probleme. Der einzige große Schicksalsschlag war der Tod ihres Mannes vor acht Jahren gewesen. Sie hatte ein gutes Herz, aber manchmal den Drang, Küchenpsychologie zu betreiben.
Die Buchhandlung hatte sie aus reiner Leidenschaft aufgebaut, aus Liebe zur Literatur und weil sie nicht zu Hause herumsitzen wollte. Miete musste sie keine bezahlen, weil das Haus, in der sich die Buchhandlung befand, ihr gehörte.
»Nein, nein. Es ist nicht so – einfach. Ach,
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