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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
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vor, und ohne sie fühlen wir uns ungefähr so hilflos wie ein vierjähriges Kind, das zur Rushhour in Tokio die Hand seiner Mutter verliert. Ich bekam heftig nickende Zuschriften, genau so sei es. Besonders beeindruckend war ein handgeschriebener Brief aus der Justizvollzugsanstalt Bernau, verfasst von einem Mann, der wegen Steuerhinterziehung zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt worden war. Er schrieb, er habe sich unbedingt melden wollen wegen dieses Wortes »Phantomschmerz« in meinem Text. Man habe ihm am Tag des Haftantritts den Blackberry abgenommen, das sei für ihn viel schlimmer gewesen als der Freiheitsentzug. Er habe tatsächlich körperliche Entzugserscheinungen gespürt und fortwährend in seiner Zelle an die leere Hosentasche gefasst, weil er fest davon überzeugt war, den Vibrationsalarm des Geräts am Oberschenkel zu spüren.
    Den Brief habe ich aufgehoben. Ich wollte unbedingt darauf antworten. Dann aber war er weg, der Brief. Bei mehreren aufwändigen Expeditionen in die entlegenen Regionen meines Schreibtischs fand ich dies und das, nur der Brief blieb verschollen. Als ich aber jetzt aufräume, fällt von der Unterseite eines Taschenbuchs das Kuvert ab. Der Brief ist weg, da liegt nur der leere Umschlag.
    Mein Schreibtisch ist noch perfider als Frank Schirrmachers Computer, er frisst das Wichtige auf und spuckt mir nur höhnisch das Unwichtige hin. Dann steht er wieder da, still und starr wie der See, und tut so, als sei nichts gewesen. Ich habe dem Mann in die JVA Bernau geschrieben, dass ich ihn unbedingt treffen möchte. Wahrscheinlich ist er längst wieder auf freiem Fuß, hat einen neuen Blackberry und ist damit so unfrei wie vor seiner Haft.
    10. DEZEMBER
    Muss dieses Experiment ausgerechnet im Dezember anfangen? Was für ein grausamer Monat. Die ganze Schöpfung macht auf Liebesentzug. Das Tageslicht sagt jeden Nachmittag um vier: kommt mal ruhig ohne mich aus. Die Vögel sagen gar nichts mehr, sondern fallen als Amseleis von den Bäumen. Und ich radle früh morgens im nadelkalten Schneeregen durchs analoge Zwielicht, zur Tagung der rumäniendeutschen Schriftsteller. Das Wasser läuft mir vom Helm in den Nacken und von der Regenhose in die Stiefel, aber das ist immer noch besser, als im vermieften, vollen Bus zu hocken. Auf der Isarbrücke am Gasteig bleibe ich stehen, um meine Hose über die Stiefel zu ziehen. Dabei sehe ich unten auf der Kiesbank eine Ente, die sich in einem Draht verfangen zu haben scheint. Ich schaue ihr eine Minute dabei zu, wie sie schimpfend ihr Bein streckt, aber nicht von der Stelle kommt. Dann stelle ich das Rad ab und gehe runter an den Fluss. Als die Ente mich sieht, wird sie merkwürdigerweise ganz ruhig und kuckt mich an, als erwarte sie, dass ich ihr helfe. Sie erinnert mich mit ihrem beleidigt zusammengepressten Schnabel und dem schmalen Gesicht an Sandra Bullock. Wobei sie ein Er ist, flaschengrünes, fast schwarzes Kopfgefieder, das im Regen ölig schimmert.
    Sie hat sich in einem rostig verbogenen Draht verheddert. Der Draht kommt aus einem Betonklotz, der im flachen Wasser liegt, und er ist so eng um das dünne Bein gelegt, dass ich gar nicht verstehe, wie sie in diese Schlinge hineingekommen ist. Die Ente quakt beleidigt vor sich hin und zerrt dann wieder an ihrem Bein. Ich bücke mich, gehe näher und rede währenddessen leise auf sie ein. Als ich vorsichtig den Draht und ihr knorpeliges Bein berühre, rührt sie sich nicht, dreht aber ihren Kopf ostentativ um 180 Grad weg. Ich muss an ein Kind denken, das beim Arzt eine Spritze bekommt und tapfer zur Decke kuckt. Ich habe den Draht kaum aufgebogen, da wendet sie ruckartig den Hals nach vorne und flattert schimpfend über die Kiesbank und das Wasser in Richtung Deutsches Museum davon.
    Eine Viertelstunde später sitze ich in einer deprimierenden Mehrzweckhalle im Sudetendeutschen Haus und höre rumäniendeutschen Schriftstellern zu, die über ihre Securitate-Akten sprechen. Die Tagung ist für die daran Beteiligten sehr dramatisch, in Rumänien werden gerade erst die Archive aus der Ceaucescu-Zeit geöffnet, und die meisten Redner haben erst vor kurzem erfahren, welche Bekannten oder Verwandten sie jahrelang bespitzelt haben. Sie zittern während ihrer Vorträge, einige scheinen noch ratlos zwischen den Papieren zu sitzen und auf ihr Leben zu blicken wie auf einen vergilbten Haufen loser und plötzlich unentzifferbarer Blätter. Ein dünner Mann mit steingrauer Haut verliest mit hochgezogenen

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