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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
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Redakteur im 19. Stock eines Hochhauses, die einzige Maus, die ich habe, liegt neben dem Rechner und ist aus Plastik. Statt wie Thoreau am Waldensee »den Trunk unverdünnter Morgenluft« zu genießen, atme ich Klimaanlagenausdünstungen. Außerdem schaue ich in den kurzen Momenten, in denen ich nicht in den Bildschirm starre, durch eine Doppelverglasung auf die Welt. Ich habe von hier oben noch nie ein Tier, geschweige denn eine Königskerze gesehen (was ist das überhaupt?), nur Häuser, Geleise, Straßen und weiter hinten, am Horizont, als tröstenden Abschluss, die Alpen. Und doch: Ich würde gerne wissen, inwieweit die Tatsache, keinen Internetzugang und keinen Mail-Anschluss zu haben, in unserer vernetzten Welt einen ähnlich einschneidenden Schnitt bedeutet wie seinerzeit Thoreaus Umzug in die nahen Wälder.
    Wozu sollte ich aufs Land gehen? Stille gibt es dort auch keine mehr. Blaise Pascal schrieb, das ganze Unglück der Menschen rühre »allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen«. Aber als er das schrieb, gab es noch stille Zimmer. Heute werben selbst Berghütten mit Internetanschluss; W-LAN ist fast überall. Ich will bleiben, wo ich bin, und schauen, ob sich die Lebensqualität ändert, wenn ich auf das Netz verzichte. Ob es auch hier stiller wird. Konzentrierter. Gerichteter. Ob das Leben dadurch den breiten Rand bekommt, von dem Thoreau einmal in »Walden« spricht.
    12. DEZEMBER
    Der Rezeptionist in dem kleinen Berliner Hotel entschuldigt sich bei mir, es tue ihm wirklich leid, sie hätten momentan kein W-LAN. Ich sage, das sei völlig in Ordnung, ich hätte nämlich momentan auch keines.
    Ich erinnere mich noch gut an den Moment, an dem ich erstmals dachte, Rühle, mit dir stimmt was nicht, du solltest dich lebenstechnisch dringend mal durchchecken lassen oder, besser noch, selbst etwas ändern: Das war, als ich in einem Pariser Hotelzimmer vergeblich versuchte, ins Netz zu kommen, wütend die Rezeption anrief und in den Hörer donnerte: »Wie können Sie sich vier Sterne an die Eingangstür kleben und dann kein W-LAN haben?« Ich habe auf meinen Journalistenreisen in Jugendherbergen und auf Zeltplätzen genächtigt, bin, um Übernachtungsgeld zu sparen, klaglos mit Nachtzügen in geruchsintensiven Sechserabteilen gefahren, ernähre mich unterwegs oft aus irgendwelchen Tüten, habe sogar das mumifizierte Tellerfleisch im Bahnhofsimbiss von Hamm klaglos aufgegessen und finde es völlig in Ordnung, wenn das Hotelzimmer auf einen schachtähnlichen Hinterhof rausgeht. Warum also führte ich mich plötzlich auf wie eine Mischung aus jähzornigem Hotelzimmerzertrümmerstarlet und pedantischem Mitarbeiter der Stiftung Warentest? Weil es mir, ohne dass ich das gemerkt hätte, zum festen Ritual geworden war, als allererstes in Hotelzimmern den Rechner hochzufahren. Statt wie früher spätabends schon mal einen Spaziergang durch die unbekannte Stadt zu machen – das ruhig und entspannt an einem Laternenmast kopulierende Paar in Marseille; der betrunkene Sänger mit schiefgeknöpftem Mantel auf dem verschneiten Dach des Secondhand-Ladens in Reykjavik; die tot vom Himmel fallende Riesenmöwe in den Häuserschluchten von Vancouver –, arbeitete ich an viel zu tiefen Sofatischchen Mails ab.
    Dem Berliner Rezeptionisten hätte ich gerne noch gesagt, dass er sein W-LAN-freies Hotel doch einfach offensiv verkaufen soll, der echte Luxus besteht heute nicht mehr darin, W-LAN zu haben, sondern im Gegenteil darin, einen unvernetzten Raum zu bieten. Die Menschen dürsten doch nach Entschleunigungsoasen, Schweige-Retreats, Meditationswochen, Klosteraufenthalten. Allerorten werden »Räume der Stille« gebaut. Das Sheraton in Chicago wirbt damit, dass die Gäste ihre Mobilfunkgeräte abgeben können. Und das Fünfsternehotel Vigilius in Südtirol bietet Zimmer ohne Fernsehen, Radio und Internet an, das sei für all die gestressten Führungskräfte, die hier hochkämen, »der eigentliche Luxus«, sagte mir eine Managerin.
    14. DEZEMBER
    Grotesk, was einige in dieses Experiment hineingeheimnissen. Gestern sagte eine Frau am Telefon, sie finde meinen Versuch deshalb so großartig, weil sich dadurch der Blick auf die Welt weite. »Sie werden klarer hören und sehen, die Farben, die Dinge, alles.« Also gut, was höre und sehe ich so früh am Morgen? Ich höre ein paar Dielen im Wohnzimmer knarzen, B. übt Yoga. Ich sehe die kolossale Unordnung meines Schreibtischs, Kontoauszüge,

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