Ohne Netz
wieder aufgab. Ende März 1845 fragte ihn sein Freund, der Philosoph, Autor und Bleistiftfabrikantensohn Henry David Thoreau, ob er sich auf dem Grundstück ein Häuschen bauen dürfe. Als ihn Emerson fragte, warum er das vorhabe, antwortete Thoreau, er wolle sehen, wie man sein Leben möglichst einfach, möglichst frei, möglichst autark gestalten könne. In »Walden«, dem Buch, in dem er später über die zwei Jahre in den Wäldern Rechenschaft ablegt, heißt es, er habe das Ganze angefangen, »um mit Bedacht zu leben, mich nur mit den wesentlichen Dingen des Lebens auseinanderzusetzen, um zu sehen, ob ich nicht lernen könnte, was es mich zu lehren hatte, um nicht, wenn es ans Sterben ginge, entdecken zu müssen, dass ich nicht gelebt hatte.«
Es war die Zeit, in der jedes Jahr Tausende über die Appalachen gen Westen zogen, in die unbewohnte Weite, die natürlich gar nicht so unbewohnt war, wie die Weißen damals meinten, aber man konnte tatsächlich noch leere, unberührte Gegenden finden. Thoreau aber wollte keine geografische Veränderung, er wollte sein Leben an Ort und Stelle ändern: Radikal in der Natur leben – »kein Hof, sondern unumzäunte Natur, die sich bis zur Türschwelle ausdehnt; junger Wald, der unter den Fenstern in die Höhe treibt; wilde Brombeerranken, die durch den Keller brechen, eigensinnige Pechtannen, die gegen die Schindeln reiben« – und doch in der Nähe von Concord bleiben, wo er geboren war, wo seine Familie lebte, wo die Bleistiftmanufaktur der Thoreaus stand, im Staate Massachussets, über den sich damals schon ein dichtes Netz aus Zivilisation gelegt hatte (und an dessen Feinmaschigkeit er eifrig mitwob: Thoreau war aufgrund seiner geografischen Kenntnisse sehr gefragt als Landvermesser). Die für damalige Verhältnisse stark befahrene Landstraße von Concord nach Lincoln führte in Sichtweite der Hütte durch den Wald, der Zug von und nach Fitchburg fuhr in fünfzig Meter Entfernung vorbei, Freunde und Neugierige kamen häufig zu Besuch, und nach Concord waren es gerade mal zwei Meilen zu Fuß, ein Katzensprung für Thoreau, der es liebte, sich in tagelangen Wanderungen in der Natur zu verlieren.
Am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag, lieh er sich einen Heuwagen, belud ihn mit ein paar Utensilien und bezog seine Einraumbehausung. Er hatte sehr wenig bei sich, einen Tisch, zwei Glasfenster, drei Teller, einen Kessel, eine Pfanne, eine Tasse, einen Löffel, einen Öl- und einen Sirupkrug, eine japanische Lampe, Nähzeug, ein Bett ... Und dann hatte er noch drei Stühle dabei, »einen für die Einsamkeit, zwei für die Freundschaft, drei für Gesellschaft.«
Thoreau war kein mürrischer Einsiedler, seine Zeitgenossen betonen, was für ein interessanter, angenehmer Mensch er gewesen sei. Er war auch kein veträumter Esoteriker, der vor den Zumutungen des modernen Lebens in die Einsamkeit geflohen wäre, im Gegenteil, Thoreau hatte Zeit seines Lebens etwas ungemein Zupackendes, Lebenspraktisches. 1844, im Jahr vor seinem Experiment, hat er für einige Monate in der Bleistiftmanufaktur der Familie mitgearbeitet und dabei mehrere Produktionsneuerungen erfunden, die bald alle anderen amerikanischen Bleistiftfirmen übernahmen.
Thoreau war auch kein freudlos strenger Asket, während seines Experiments ging er regelmäßig über die Bahngeleise in sein Heimatstädtchen, um bei Emersons zu dinieren oder die Apfeltorten seiner Mutter zu probieren. Aber zu Hause fühlte er sich draußen in seiner einfachen Hütte und in der Natur.
Während der ersten Wochen im Wald hatte er leichte soziale Entzugserscheinungen, aber bald keimte in ihm das Gefühl, dass sich sein Leben weite. Die Einsamkeit, nach der ihn viele ängstlich fragten, vermittelte ihm eher ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit. Einsam war er auf dem Martkplatz von Concord, nicht am Ufer des Waldensees. »Und bitte, was für eine Gesellschaft hat denn dieser einsame See? Ich bin nicht einsamer als eine einzelne Königskerze oder der Löwenzahn auf der Wiese, als eine Bremse oder Hummel.« Außerdem hatte er eine Mitbewohnerin, eine Maus, die unter seiner Hütte lebte und immer kam, wenn er sich zum Essen hinsetzte. Einer der wenigen zweckfreien Gegenstände, den er in seiner Hütte duldete, war ein Bild, das an seiner Tür hing und das ihn selbst mit dieser Maus zeigte.
Mich mit Thoreau zu vergleichen, erscheint auf den ersten Blick vollkommen lächerlich. Ich sitze Anfang des 21. Jahrhunderts als festangestellter
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