Ohne Netz
Schultern eine Art Schuldbekenntnis, andere prangern wütend an. Es ist wie bei uns um 1991, als die Ostdeutschen ihre Akten erstmals einsehen konnten und plötzlich Helden zu Schurken wurden. Durch die Berichte zeichnet sich das Bild ab eines abgeschotteten, dunklen Landes, ein Lager in Europa, hoffnungslos abgehängt wie ein einsamer Patient.
Ich will meinen kleinen, harmlosen Selbstversuch nicht mit dem furchtbaren Lebensschicksal der Rumänen vergleichen, aber zumindest an die Zustände in der DDR muss ich doch denken, als ich in der Mittagspause auf der Suche nach einer Telefonzelle durch den Eisgraupel laufe, genauer gesagt an Ostberlin Anfang der Neunziger. Als Student musste ich von unserer braunkohlebeheizten Ostberliner Hinterhauswohnung zum Telefonieren immer runter auf die Greifswalderstraße, wo zwischen Kaiser’s und Postamt eine regenmantelgelbe Zelle stand. Alle Passanten, die ich jetzt frage, ob sie wüssten, wo hier eine Zelle steht, schütteln den Kopf, »Telefonzelle?!«, sagt eine junge Frau, »die gibt’s doch schon lange nicht mehr«. Gibt es schon: Vor dem Kino Museum Lichtspiele. Ich bitte Cornelius Esau im Archiv, mir zum Thema der Tagung Zeitungstexte aus dem vergangenen Jahr zu suchen. Dass ich das Archiv bemühe, ist kein Trick, um das Internetfasten zu umgehen, ich lasse mir bei den meisten Themen, über die ich schreibe, von unseren Archivaren ein Dossier zusammenstellen. Der einzige Unterschied ist, dass ich die Sachen diesmal nicht auf meinen Rechner geschickt bekomme, sondern später an den Stadtrand radeln und sie mir holen muss, wenn ich sie heute noch lesen will.
Während ich laut in den Hörer spreche, um den Autolärm zu übertönen, fällt mir ein, dass die Polizei in einigen Städten jugendlichen Straftätern mittlerweile den Führerschein abnimmt. Die Polizei argumentiert, der herkömmliche Strafenkatalog würde bei vielen keine abschreckende Wirkung mehr entfalten. Führerschein und Auto hingegen seien wichtige Statussymbole. Wenn ihnen beides abgenommen werde, bedeute das einen erheblichen Prestigeverlust. Ich stehe im Hundepissedunst, starre auf ein hässliches »Fuck«-Graffiti an einem Stromkasten und frage mich, ob man hierzulande noch nie darüber nachgedacht hat, Leuten als drakonischste aller Strafen das Handy wegzunehmen. Prestigetechnisch ist die Situation, in der ich mich gerade befinde, recht weit unten anzusiedeln. Selbst die härtesten Verbrecher, die bei der Urteilsverkündung hinter ihrer Gesichtskulisse schon ein Verachtungslächeln bereithalten, selbst solche Pitbulls würden wahrscheinlich reumütig winseln, wenn sie erführen, dass sie gar nicht ins Gefängnis kommen, sondern ihr Handy abgeben müssen oder nicht mehr ins Netz dürfen. So wie es in Frankreich neuerdings das Loi Hadopi erlaubt, das »Gesetz zur Verbreitung und zum Schutz kreativer Inhalte im Internet«: Wer erstmalig beim Raubkopieren erwischt wird, erhält eine warnende E-Mail. Beim zweiten Vergehen gibt es einen Brief per Einschreiben, beim dritten Mal kann einem der Internetzugang für ein Jahr gesperrrt werden. Bei schweren Verstößen können Geldstrafen bis zu 300 000 Euro und Gefängnis bis zu drei Jahren verhängt werden.
Während es in die offene Zelle regnet, stelle ich etwas sehr Merkwürdiges, scheinbar Widersprüchliches fest: Der Blackberry geht mir in dem Moment nicht ab. Überhaupt nicht. Ich starre auf das Ufer, an dem ich vor ein paar Stunden den Wendehals aus dem Draht befreit habe. Jetzt müsste das Ding mir doch fehlen. Tut er aber nicht. Es ist okay, wie es ist. Völlig konsterniert gehe ich zurück zur Tagung und hör mir weitere drei Stunden Leidensberichte der Securitate-Überlebenden an.
11. DEZEMBER
Einige Freunde fragen, warum ich für mein Experiment nicht in die Einsamkeit der Natur gehe. Sie meinen, wenn schon fasten, dann richtig, in Rundumstille, mit Alltagskomplettsanierung, in den Bergen oder noch weiter weg. Aber zum einen muss ich eine Familie ernähren und kann nicht einfach auf einen halbjährigen Meditationstrip verschwinden. Zum anderen antworte ich dann immer mit Thoreau.
Der Philosoph Ralph Waldo Emerson hatte 1843 etwas außerhalb von Concord, in der Nähe eines kleinen Sees namens Walden Pond, ein Stück Land erworben. Er tat das einerseits, um die darauf stehenden uralten Bäume vor den gefräßigen Holzfabriken der Umgebung zu retten, andererseits hatte er den vagen Plan, selber eine Waldhütte zu bauen, ein Vorhaben, das er schnell
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