Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
keine Lust für solche komplizierten Sachen. Mit mysteriösen Tätowierungen und so ’nem Kram. Ach, du dickes Ei, das hab ich ja ganz vergessen. Weißt du was, das soll der Geiger machen. Der ist doch da, oder?“
„Ja, vor fünf Minuten war er noch in seinem Zimmer.“
Aber diese Hypothese traf nicht zu, denn Kriminalhauptmeister Geiger stand in Seelenruhe bei Petra Flockerzie und schlürfte an einem Espresso.
„Aha, viel beschäftigt wie immer, der Herr Kollege!“, giftete Tannenberg los. „Was hast du in der Apotheke rausgekriegt?“
„Nicht viel. Nur dass man dieses Zeug noch nicht mal gegen Rezept, sondern, wenn überhaupt, dann nur direkt über den Tierarzt bekommen kann.“
„Na, das ist doch schon mal was Erfreuliches. Das engt ja den potentiellen Täterkreis schon ziemlich ein. Gut gemacht, Geiger!“
„Danke, Chef!“ Der Kriminalbeamte führte sichtlich zufrieden die kleine, dickwandige Espressotasse zum Mund und nippte vorsichtig an der heißen Flüssigkeit.
„So, und zur Belohnung gehst du jetzt gleich in das Tätowierungs-Studio in der Breitscheidstraße und zeigst den Leuten dort mal unser Motiv. Vielleicht fällt denen ja was dazu ein.“
Bereits nach einer knappen Viertelstunde war Kriminalhauptmeister Armin Geiger von seinem Dienstgang zurückgekehrt und berichtete von den Ergebnissen seiner Expertenbefragung: „Die zwei Besitzer haben gemeint, dass man sich solche primitiven Tätowierungen in fast jedem Hinterhof machen lassen kann. Das ist hundertprozentig keine Profiarbeit, meinen sie. Und mit diesen komischen Abkürzungen, also diesen Buchstaben, können sie auch nichts anfangen. Das kann alles Mögliche heißen, sagen sie.“
„Na ja, so weit sind wir ja wohl auch schon. Aber, was soll’s. Einen Versuch war’s allemal wert!“
„Aber Chef, wissen Sie was?“
„Was?“
„Der eine hat mich doch tatsächlich am Schluss gefragt, ob ich mir nicht auch so’n Tattoo machen lassen will. Und hat mir auch eins vorgeschlagen: Ein mit zwei dicken Linien durchkreuzter Bullenkopf. Da bin ich aber echt sauer geworden, Chef, wirklich.“
5
Sonntag, 27. April
Wie von einer geheimnisvollen Kraft magisch angezogen, schwebte er auf ein großes schwarzes Tor zu, das sich, kurz bevor er es berührte, lautlos öffnete und ihn in einen hell erleuchteten grünen Tunnel mit wabenförmigem Querschnitt entließ.
Die merkwürdige Röhre erinnerte ihn spontan an einen botanischen, vorwiegend aus einheimischen Laubgehölzen bestehenden, Lehrgarten.
Der Konstrukteur dieses magischen Waldlehrpfads hatte die einzelnen Bäume und Sträucher anscheinend so programmiert, dass sie, kurz bevor er sie erreichte, im Zeitraffertempo nacheinander alle Gewänder anlegten, die sie im Laufe einer Vegetationsperiode zu tragen gewohnt sind.
Er fühlte sich wie in einem riesigen Expeditions-Endoskop, mit dem er ruhig und emotionslos ein ihm bislang völlig unbekanntes Terrain erkundete.
Natürlich hatte auch er stets die Veränderungen registriert, denen das Erscheinungsbild der Bäume im Wechsel der Jahreszeiten unterworfen war. Aber die beeindruckende Dynamik und Ästhetik des ewigen biologischen Kreislaufs war ihm in dieser Form noch nie begegnet: An einem sich noch im Winterkleid befindlichen Laubbaum, den er sofort als Birke identifizierte, vergrößerten sich urplötzlich die von den dünnen Enden der Ästchen herabhängenden kleinen Kätzchen, fächerten sich auf und setzte ohne jegliche Vorwarnung den von einem Pollenallergiker wie ihm so extrem gefürchteten Blütenstaub frei.
Spätestens diese völlig emotionsfrei wahrgenommene und folgenlos für ihn gebliebene Konfrontation mit den hochallergenen Substanzen verdeutlichte ihm, dass sich eine radikale Veränderung bezüglich seines Status ereignet haben musste: Er war nicht mehr aktiver Teilnehmer, sondern nur noch passiver Beobachter eines anscheinend von ihm nicht willentlich zu beeinflussenden Geschehens.
Federleicht schwebend, ohne den geringsten Luftwiderstand zu verspüren, bewegte er sich ruhig und gelassen vorbei an prächtigen Hainbuchen, Robinien, Eichen, Kastanien und Ebereschen auf ein strahlend helles, aber nicht blendendes Licht am Ende des grünen Tunnels zu, das, je mehr er sich ihm annäherte, umso heller und leuchtender wurde.
Er war losgelöst von jedwedem Zeitbegriff, trieb auf dem ihn sanft wiegenden Meer der Unbekümmertheit, verspürte weder Furcht noch Trauer, noch irgendeine Spur von Verzweiflung, fühlte sich
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