Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
dann warten wir mal gespannt auf den Herrn. Ich geh jetzt mal nach Hause. Und bin in 4 Stunden wieder da. Wenn was ist, rufst du mich halt an!“
„Klar, Wolf, mach ich!“
Aber Tannenberg ging nicht nach Hause, denn er erinnerte sich plötzlich daran, dass er, weil es heute Morgen stark geregnet hatte, mit seinem Auto zur Dienststelle gefahren war. Und als er sein rotes BMW-Cabrio unten auf dem Parkplatz so einladend und inspirierend stehen sah, betrachtete er seine spontane Eingebung als göttlichen Fingerzeig.
Also packte er die Gelegenheit beim Schopfe, setzte sich auf den schwarzen Ledersitz, startete den Motor und fuhr in den PRE-Park zum Gebäude der Softwarefirma FIT.net , wo in dem Komplex der Geschäftsleitung seine Herzdame residierte.
Manchmal unternahm Wolfram Tannenberg Dinge direkt aus dem Bauch heraus, ohne sie durch rationale Prüfinstanzen zu jagen und ohne sich auch nur einen Deut um die möglicherweise problematischen Folgen seines Tuns zu kümmern. Wie auch an diesem trüben Apriltag, an dem er mal wieder von diesem heimtückischen Teufel des spontanen Aktionismus geritten wurde.
Objektiv betrachtet war es schließlich schon mehr als verwegen, in dieser sensiblen Kennenlernphase einfach so auf gut Glück der Frau einen unangekündigten Besuch abzustatten, die so sehr von ihm Besitz ergriffen hatte, dass er sogar nachts von ihr träumte.
Subjektiv betrachtet konnte er sich diesem unaufschiebbaren Bedürfnis allerdings einfach nicht entziehen, war quasi willenloser Spielball höherer Mächte. Hatte also gar keine Chance, sich gegen die Kräfte des Schicksals erfolgreich zur Wehr zu setzen.
Da sich die Sekretärin noch an seine Person und den von ihm ausgeübten Beruf erinnerte, erschien ihr der unangemeldete Besucher anscheinend genügend vertrauenswürdig, um ihm Zutritt zum verwaisten Büro ihrer Chefin zu gewähren.
Dort sah es immer noch genauso aus, wie damals, als er Ellen Herdecke mehrere Male im Zuge seiner Ermittlungen dienstlich aufgesucht hatte.
Und nun stand er wie ein kleiner Junge hier herum und wartete, bis das Objekt seiner Sehnsüchte Zeit für ihn hatte.
Je länger er wartete, umso argwöhnischer und selbstkritischer bewertete er seine überfallsartige Handlungsweise. Er wurde immer nervöser, kam sich immer alberner vor. Er trippelte ungeduldig auf der Stelle, seine Hände gruben sich in seine Hosentaschen, wühlten unruhig darin herum.
Gerade nachdem er sich dazu entschlossen hatte, diesen unerträglichen Zustand durch eine spontane Flucht zu beenden, kam Ellen Herdecke mit fliegendem Schritt in ihr Büro hereingestürmt.
„Ach, wie schön Sie zu sehen, lieber Herr Tannenberg“, empfing sie ihn mit einem strahlenden Lächeln, das ihn sofort für alles entschädigte, was er in den letzten Minuten an Höllenqualen hatte erleiden müssen.
„Hallo, Frau Herdecke, ich war gerade in der Nähe. Und da hab ich mir gedacht, ich schau mal nach Ihnen. Vielleicht können wir ja irgendwo zusammen einen Kaffee trinken gehen.“
Wie kann man nur in solch einer Situation solch einen ausgemachten Schwachsinn von sich geben!, trat wieder einmal Tannenbergs innere Stimme ungebeten auf den Plan.
„Ist jetzt leider sehr schlecht. Ich hab gleich noch einen äußerst wichtigen Geschäftstermin außer Haus wahrzunehmen. Aber wir könnten doch mal gemeinsam ins Konzert gehen. Mögen Sie klassische Musik?“
„Ja … schon.“
„Aber nicht so richtig, wie?“ Ellen lachte.
„Doch …“
„Wir sind richtige Klassik-Fans. Jedes meiner Kinder spielt ein Instrument. Und ich hab lange Jahre Klavierunterricht gehabt.“
„Doch, ich gehe gerne mit Ihnen in ein Konzert.“
„Gut! Dann besorg ich zwei Karten und meld mich bei Ihnen, ja?“, sagte sie und verabschiedete sich.
Mann, war das ein Flop! So eine Blamage! Was wird die Frau jetzt wohl von dir denken?, fragte sich Tannenberg, als er tief eingetaucht in seine Gedanken, langsam die Treppe hinunterging.
Klassische Musik? Hab ich etwas mit klassischer Musik am Hut? Na ja, eigentlich schon; aber nur, wenn ich in Stimmung dazu bin. Das passiert aber eigentlich nur sehr selten. Und dann auch nur Wagner und den guten alten Ludwig van, und da eigentlich auch nur die Schicksalssymphonie. Klassische Musik? Klavierkonzerte? Na klar: Keith Jarrett’s ›White Album‹! Und das legendäre Deep-Purple-Konzert mit dem Londoner Royal Philharmonic Orchestra. Rock meets Classic! Das war’n noch Zeiten! Oder: April, dieses
Weitere Kostenlose Bücher