Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
ein hochfrequentes Geräusch. Es war ein Sirren, das sich ihm langsam näherte – und nur von einer Schnake stammen konnte.
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Tannenberg wollte nach dem Frusterlebnis bei Ellen Herdecke einfach nur seine Ruhe haben. Als leidenschaftlicher Kulturmuffel hatten ihn seine erfolglosen Bemühungen, die ihm zum Fraß vorgeworfenen unverdaulichen Brocken weichzukauen und sie anschließend hinunterzuschlucken, ziemlich ermüdet und zermürbt.
Besonders die Vorstellung, dass er sich in Schale werfen, sich in einen mit affektierten Menschen vollgestopften Musentempel begeben und sich dort auch noch anständig benehmen sollte, deprimierte ihn zutiefst.
Und dann sitz ich da in so ’nem todlangweiligen Konzert rum. Oder sogar in ’ner Oper – oder schlimmer noch: in so ’ner schrecklichen Operette!, dachte er resigniert, während er gemächlich die Donnersbergstraße hinunterfuhr. Oh, nein, wie soll ich das nur aushalten?
Er seufzte.
Aber, was soll ich denn nur machen? Schließlich will ich mir’s ja mit Ellen auch nicht verscherzen. Irgendwie werd ich das schon hinkriegen!, sprach er sich selbst Mut zu. Lea hat mich ja am Anfang auch zu Vernissagen, Lesungen und so ’nem Kulturkram geschleppt. Aber später haben wir uns ja zum Glück arrangiert: Sie musste nicht mit auf den Fußballplatz und ich nicht mit zu diesem Kulturkack.
Auf der Höhe des Kaiserslauterer Hauptfriedhofs erreichten seine kulturkritischen Gedankengänge geradezu philosophische Dimensionen: Ist das, was die uns heute als Kultur verkaufen wollen, überhaupt Kultur? … Das, was die in der Antike oder auch in der Renaissance geschaffen haben, das waren kulturelle Höchstleistungen! Aber heute? Die kupfern doch nur alles ab. Heute gibt’s doch gar nichts Neues mehr! Bin mal gespannt, was uns in dieser Hinsicht noch so alles in der Zukunft erwartet … Na ja, mal sehen, was die Zukunft so bringen wird … Ja, ja, die Zukunft! – Egal, jetzt will ich nur eins: Mich nach einem hoffentlich richtig guten Mittagessen zu einem Verdauungs-Nickerchen auf meiner Couch ablegen.
Zu Tannenbergs großem Leidwesen kam es aber an diesem ereignisreichen Montag weder zu dem einen, noch zu dem anderen. Denn gleich nach seiner Ankunft in der elterlichen Wohnküche bestürmte ihn Marieke mit dem dringlichen Wunsch, sie so schnell wie möglich zu Max in die Schlossklinik nach Trippstadt zu fahren. Sie flehte ihn dabei so herzerweichend an, dass er es einfach nicht fertigbrachte, ihr Begehren brüsk zurückzuweisen.
Also ließ er die schon servierten, in ein heißes Sauerkrautnest gebetteten und mit braunen Knusperzwiebeln gekrönten Leberknödel trotz seines knurrenden Magens unberührt stehen und erfüllte seiner Nichte ihren Herzenswunsch.
Kurz nachdem Marieke sich auf dem Klinikparkplatz von ihrem Onkel verabschiedet hatte, quälte sich dieser mühevoll aus seinem roten BMW und wollte sich gerade auf die Suche nach einer Gaststätte begeben, als er auf der Hauptstraße einen Konvoi von drei langsam hintereinander herkriechenden Wohnwagen mit gelben Nummernschildern an der Schlosseinfahrt vorbeischleichen sah.
Oh je, die fahren ja noch schlechter Auto als die Saarländer!, war alles, was ihm kopfschüttelnd zu dieser beeindruckenden Wagenkolonne einfiel.
Er vertiefte dieses leidige Thema allerdings nicht weiter, sondern fasste spontan den Entschluss, in der Zeit, während Marieke ihren Freund besuchte, einen Abstecher zu dem im Neuhöfertal gelegenen Campingplatz zu machen, auf dem Ruud van der Hougenband seinen Urlaub verbrachte. Seine überraschende Entscheidung wurde nicht unwesentlich durch den Umstand begünstigt, dass sich am Eingang des Campingplatzes eine für ihre deftige Hausmannskost weithin gerühmte Gastwirtschaft befand.
Und weil es schon vor einiger Zeit aufgehört hatte zu regnen und die grauschwarze Wolkendecke inzwischen sogar beträchtliche hellblaue Risse aufwies, verspürte er ein unstillbares Bedürfnis nach einem ausgedehnten Spaziergang. Bevor er losmarschierte, schrieb er noch schnell eine an Marieke gerichtete kurze Nachricht auf einen Zettel und klemmte diesen unter einen der Scheibenwischer.
Ein breiter Schotterweg führte ihn zunächst an weiten, dampfenden Feldern und Wiesen vorbei, bis er schließlich den spalierartigen Saum des Hochwaldes erreichte. Die einzelnen Baumarten empfingen ihn mit den verschiedenen Farbtönen ihrer Frühlingsgewänder, die vom zarten Grün saftiger Buchenblätter über das dunklere, kräftigere der
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