Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
unangemessenen Lautstärke zurück, dass sich sofort einige der sich in ihrer andächtigen Hingabe gestört fühlenden Kulturfetischisten mit rügendem Blick nach ihm umwandten. „Nein, so schlimm ist es nun auch wieder nicht“, log er, ohne dabei auch nur eine Spur rot zu werden.
Durch diesen Einwurf war sein Spiel zerstört. Natürlich ohne dies zu beabsichtigen, hatte Ellen ihn mit ihrer Bemerkung aus dem Konzept gebracht. Er wusste nun plötzlich nicht mehr, wie viele ›ähms‹ er bereits gezählt hatte.
Und dann war die erste – und wie er spontan entschied, auch garantiert letzte – musikalische Lesung seines Lebens plötzlich zu Ende. Er atmete erleichtert auf, in der zaghaften Hoffnung, dass der nun folgende Gaststättenbesuch mit Heiner und Betty sich für ihn zumindest ein wenig erträglicher gestalten würde.
Dem war aber leider nicht so, denn seine gerade zögerlich wiedererstarkende Lebensfreude bekam sogleich einen gewaltigen Dämpfer versetzt.
„Was macht denn eigentlich ein Deutschlehrer bei einer Krimilesung? Ich dachte immer das ist für euch Germanisten verabscheuungswürdige Trivialliteratur?“, hatte er eigentlich nur neugierig von seinem Bruder wissen wollen.
„Na, ich und Betty passen da ja wohl viel besser hin als du. Du hast doch schon seit Jahrzehnten kein Buch mehr in der Hand gehabt – außer vielleicht das Telefonbuch.“
Die Anwesenden grölten, hielten sich vor Lachen den Bauch. Nur Tannenberg nicht. Er saß stumm vor seinem Wein und dachte an Lea.
Mit ihr war alles ganz anders gewesen. Sie hat mich immer verstanden. Sie hätte mich jetzt einfach an der Hand genommen und mich nach Hause gezogen.
Dann bestellte er sich ein weiteres Glas.
Es gab nur Dornfelder.
Er hasste deutschen Rotwein.
16
Samstag, 3. Mai
Der Telefonanruf erreichte Wolfram Tannenberg genau in der Halbzeit des letzten Saisonspiels des 1. FCK, in dem es um nichts Geringeres als um die Qualifikation für die direkte Teilnahme am UEFA-Cup-Wettbewerb ging. Deshalb reagierte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission verständlicherweise auch alles andere als begeistert, als der Polizeipräsident sich höchstpersönlich bei ihm meldete und ihn umgehend in sein Büro beorderte.
Tannenberg machte sich zu Fuß auf den Weg in das kaum mehr als einen Steinwurf von seinem Elternhaus entfernte Polizeipräsidium. Aus purer, trotziger Wut über den brachialen Eingriff in seinen ihm heiligen Bundesliga-Konsum nahm er aber nicht den kürzesten Weg über die Glockenstraße, sondern ging vor bis zur Eisenbahnstraße, bog dann nach rechts ab in Richtung Bahnhof, um nach knapp hundert Metern wieder nach rechts in die Logenstraße einzuschwenken.
Vielleicht lag die Ursache für diesen Umweg tatsächlich in seiner manchmal geradezu kindlichen Widerborstigkeit begründet, vielleicht war sein merkwürdiges Verhalten aber auch auf seine ausgeprägte Aversion gegenüber dem neu errichteten Erweiterungsbau des Polizeipräsidiums zurückzuführen, in dem sich nun seit einiger Zeit auch das Büro des Präsidenten befand.
Jedenfalls freute sich der Leiter des K1 spitzbübisch, dass er auf diesem Umweg zufälligerweise das alte Polizeigebäude mit seiner prächtigen Buntsandsteinfassade passieren musste, dessen Anblick ihn an diesem Nachmittag unwillkürlich an die Trippstadter Schlossklinik erinnerte.
Mit behäbigen Schritten betrat er den klotzigen, kalten Neubau und erreichte bereits nach wenigen Sekunden das im Erdgeschoss angesiedelte, gleichermaßen steril wie protzig wirkende Dienstzimmer seines Vorgesetzten.
„Wird aber auch mal Zeit, Herr Kollege Tannenberg. Wieso haben Sie denn solange gebraucht? Sie wohnen doch gerade mal um die Ecke“, wurde er vom Polizeipräsidenten sogleich mit Vorwürfen bombardiert.
„Man wird ja in seiner Freizeit auch mal aufs Klo dürfen. Wo brennt’s denn eigentlich so fürchterlich, dass ich mir noch nicht mal das FCK-Spiel zu Ende anschauen konnte?“
„Ja, lieber Herr Kollege, das ist leider nicht so einfach zu erklären. Diesen Part werden die Kollegen vom Bundeskriminalamt gleich übernehmen. Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber seit ein paar Stunden sind wir keine verschlafene Provinz mehr, sondern plötzlich stehen wir mitten im internationalen kriminalistischen Rampenlicht!“, sagte er mit glänzenden Augen, begab sich zu seinem Schreibtisch, nahm theatralisch Platz und kramte in einer Schublade herum.
Als Tannenberg das Wort ›Bundeskriminalamt‹
Weitere Kostenlose Bücher