Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
Marieke nicht!, sagte Tannenberg zu sich selbst und dachte plötzlich an die tragische Geschichte eines jungen französischen Schülerpärchens, das vor einigen Jahren an der bretonischen Steilküste Hand in Hand von den Felsen herab in den Tod gesprungen war.
In einem langen Abschiedsbrief an ihre Eltern hatten die beiden Jugendlichen den gemeinsam begangenen Selbstmord zu begründen versucht. Und hatten darin als alleinigen Grund für ihre Wahnsinnstat angeführt, dass sie mit diesem Suizid ihre unglaublich große Liebe zueinander für alle Zeiten konservieren wollten – weil sie es nicht ertragen hätten, dass diese mit der Zeit hätte geringer werden können.
„Irre!“, murmelte Tannenberg kopfschüttelnd vor sich hin.
„Das ist wirklich irre“, stimmte Heiner zu. „Sei froh, dass du keine Kinder hast.“
„Bin ich froh, dass ich kein Kind mehr bin und solche Eltern wie euch habe!“
„Was willst du denn damit sagen?“, schrie Betty ihrem Schwager zornig ins Gesicht. „Willst du dich jetzt auch noch über uns lustig machen?“
Tannenberg sah sofort ein, dass er mit seiner letzten Bemerkung in dieser äußerst sensiblen Angelegenheit eindeutig zu weit gegangen war. Aber seiner geliebten Schwägerin wollte er trotz allem den Triumph einer Entschuldigung nicht gönnen.
Deshalb zog er sich ohne einen weiteren Kommentar abzugeben in seine Wohnung zurück.
Verdammt! Was soll ich denn nur machen?, drängten sich erneut verzweifelte Gedanken in den Vordergrund. Ich darf nicht darüber reden! Wie hat der Typ vom BKA gesagt: kein Sterbenswörtchen! – Aber ich muss mit jemandem darüber reden! Sonst werd ich wahnsinnig! Ich kann diese schreckliche Situation alleine nicht ertragen. – Basta!
Er ging zu seinem Telefonapparat, zog das Mobilteil aus der Basisstation und tippte die Taste, welche die eingespeicherten Nummern preisgab, wählte den gewünschten Gesprächspartner aus und drückte auf den grünen Verbindungsknopf.
Nach mehrmaligem erfolglosem Läuten, das Tannenbergs Pulsfrequenz nach jedem Rufton ein wenig mehr in die Höhe trieb, meldete sich schließlich Dr. Schönthaler.
„Hallo, Rainer, hast du Zeit?“
„Wann?“
„Jetzt gleich.“
„Nee, alter Junge, ich werd gleich abgeholt!“
„Es ist aber unglaublich wichtig. Ich muss unbedingt mit dir reden!“
„Mein lieber Wolfram, das hat doch wohl auch noch ein bisschen Zeit. Sagen wir um 22 Uhr im La Pergola? Ich lad dich auch ein.“
„Nein, es muss jetzt sein. Ich würde dich auch nicht darum bitten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre – überlebenswichtig!“
„Überlebenswichtig?“ Für kurze Zeit hörte man nur ein diffuses Hintergrundgeräusch, das eigentlich nur von einer in Betrieb befindlichen Geschirrspülmaschine stammen konnte. „Gut, alter Junge, dann sag ich eben ab!“
„Danke, Rainer, ich bin in ein paar Minuten bei dir.“
Gesagt, getan.
Schon eine knappe Viertelstunde später erreichte Tannenberg das Haus des Rechtsmediziners, der ihn bereits auf der Straße erwartete. Die dringlichen Fragen Dr. Schönthalers hinsichtlich der Probleme seines alten Freundes schmetterte dieser mit der Aussage ab, dass die Angelegenheit so komplex sei, dass er sich völlig außerstande sähe, darüber während der Autofahrt zu sprechen.
„Wo fährst du denn jetzt hin?“, fragte der Gerichtsmediziner verwundert, nachdem der Kriminalbeamte von der L 503 rechts nach Stelzenberg abgebogen war.
„Wart’s ab! Du wirst es gleich sehen“, entgegnete Tannenberg und steuerte sein feuerrotes BMW-Cabrio über den Römerweg nach Langensohl, wo er das Auto am Kohlhübel in einem schmalen Seitenweg versteckte.
„Und was soll ich jetzt sehen, Herr Hauptkommissar?“
„Mensch Rainer, sei doch nicht so laut!“
Aber Dr. Schönthaler ließ sich von dieser Aufforderung nicht beeindrucken: „Der Herr hat mir eben eine kräftige Stimme gegeben, damit ich ihm laut dienen kann, hat unser Religionslehrer in der Schule immer gesagt.“
Nachdem er allerdings die sich mit Tränen füllenden Augen Tannenbergs wahrgenommen hatte, verwandelte er sich plötzlich in ein sehr sensibles, ruhiges Wesen.
„Ich kann … einfach nicht mehr, Rainer! … Das ist der … totale Albtraum!“, sagte Tannenberg stockend.
„Ja, was denn, Wolf?“, fragte der Gerichtsmediziner betroffen. „Alter Knabe, ich versuch dir ja wirklich gerne zu helfen. Aber dazu musst du mir doch jetzt endlich mal erzählen, was überhaupt los ist!“
„Komm, wir gehen
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