Ohnmachtspiele
Mann. Als die Kellnerin umgehend zum Telefon griff, schrie er sie an, dass sie sofort den Hörer auflegen solle. Einige Minuten hörte man nur eine volkstümliche Band aus dem Radio jodeln. Dann stand Schäfer auf, schickte den Mann mit einem Wink der Waffe an die Bar zurück und bestellte die Rechnung. Während die Kellnerin ängstlich auf ihn zukam, holte er seinen Ausweis heraus und hielt ihn ihr vors Gesicht. Er bezahlte und verließ das Lokal ohne ein Wort. Am Bahnsteig setzte er sich auf eine Bank und legte das Gesicht in die Hände. Was war da eben passiert? Er sollte zurückgehen und dem Arsch das Gesicht einschlagen. Stattdessen drückte er die vorletzte Tablette aus dem Blister und schluckte sie trocken hinunter. Zwanzig Minuten später fuhr der Zug ein. Schäfer stieg ein, suchte sich ein leeres Abteil und versuchte, sich zu beruhigen. In Unzmarkt musste er nur fünfzehn Minuten auf den Anschlusszug nach Wien warten. An einem Automaten kaufte er eine Flasche Orangensaft und ging rauchend am Bahnsteig auf und ab. Bergmann anzurufen, täte ihm bestimmt gut. Er konnte sich nicht dazu durchringen; er schämte sich, fühlte sich als Versager, weil er seine Waffe gebraucht hatte, um sich gegen einen Dorftrottel durchzusetzen; wenn er ihn wenigstens erschossen hätte … er hasste es … diese Gegend, diese beschissenen Gewalttäter, diesen Beruf … er drehte die Saftflasche auf und schluckte auch noch die letzte Tablette.
Nachdem er ein leeres Abteil gefunden hatte, wartete er, bis der Zug abfuhr, und rief dann die Auskunft an, um Isabelles Nummer zu bekommen. Leider nicht möglich – Geheimnummer. Selbst sein Hinweis, dass er Polizist war, half ihm nicht weiter. Er überlegte, wen er noch fragen könnte. Als er sich entschloss, Bergmann anzurufen, hatte er abermals keinen Empfang.
Die folgenden Stunden dämmerte er zwischen Ohnmacht, nervöser Erregung und debiler Apathie. Mithilfe der Tabletten war es ihm gelungen, seine emotionalen und organischen Funktionen halbwegs unter Kontrolle zu halten – ein Notstromaggregat, das ihn jedoch nur vorübergehend vor dem Zusammenbruch des Systems bewahrte, so viel war ihm bewusst. Würde das vorbei sein, sobald er den zweiten Mann gefasst hätte? Oder war es genau das, was ihn überhaupt noch aufrecht hielt? Kurz vor Wien rief ihn Isabelle an. Ihr neutraler Tonfall brachte ihn auf. Warum war sie nicht wütend oder besorgt oder beides? Wo er denn wäre und was er dort mache, war das Einzige, das sie wissen wollte. Als ob sie seine Vorgesetzte wäre, der er Rechenschaft schuldig war. Er stand vor der Wahl, wie ein Kind loszuheulen oder sie schroff abzuwehren.
„Nichts … Ich mache meine Arbeit … da kann ich euch nicht jeden meiner Schritte mitteilen … außerdem hat Bergmann gewusst, wo ich bin … und dank deiner Geheimnummer bist du auch nicht gerade einfach zu erreichen … Ja, mache ich … Versprochen … Bis bald.“
Großartig. So sehr er sich nach Nähe und Geborgenheit sehnte, so wenig konnte er es sich vorstellen, jetzt bei ihr zu sein. Er wollte nicht reden … es war zu groß und zu mächtig, um es in Worte zu fassen … wenn er sich selbst nicht verstand … nein, er wollte allein sein. Als er am Südbahnhof aus dem Zug stieg, befürchtete er schon, dass Isabelle oder Bergmann am Bahnsteig stünden, um ihn abzuholen. Niemand erwartete ihn. Er ging durch die Bahnhofshalle, kaufte sich ein Sandwich und eine Schachtel Zigaretten und hielt auf dem Vorplatz nach einem Taxi Ausschau. Warum er den Fahrer nach ein paar Minuten anwies, nach Hütteldorf statt zu seiner Wohnung zu fahren, wusste er selbst nicht zu beantworten. Intuition, würde er später sagen; dass Maurers Komplize sich nach dessen Tod und ihrem gescheiterten Spiel dorthin zurückziehen würde, wo sie in ihrer Jugend laut dem Schulwart immer wieder anzutreffen gewesen waren. Das war die logische Erklärung. Die weniger rationale: Schäfer sehnte sich nach Ruhe. Doch nicht nach dem warmen Komfort seiner Wohnung. Er sehnte sich nach einer Höhle, wie sie ein Bär während des Winterschlafs behauste. Dass der Schnee und die Kälte ihn einhüllten, seinen Pulsschlag herabfuhren, sein Denken ausschalteten und ihn in ein langes unbekümmertes Koma voll bunter und friedlicher Träume sinken ließen.
„Wohin genau?“, wollte der Taxifahrer wissen.
„Linzer Straße, Ecke Rosentalgasse.“
Schäfer bezahlte, nahm seine Tasche und stieg aus dem Wagen. Die Straße, die er nun in Richtung Wald
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