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Ohnmachtspiele

Ohnmachtspiele

Titel: Ohnmachtspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Haderer
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seine Entscheidungen begründete. Das Auf und Ab seiner Gefühle, diese ausweglose Verzweiflung der letzten Wochen, dann diese plötzliche manische Energie, die ihn erfasst hatte, als er die Verbindung zwischen den Todesfällen hergestellt hatte. Und die kindliche Enttäuschung, als ihm niemand Anerkennung für seine Entdeckung gezollt hatte, zugegeben, er war noch nicht ganz auf der Höhe, rekonvaleszent, versuchte deshalb umso störrischer, sich aus diesem Zustand zu befreien, unüberlegt, wie jemand, der im ersten Gang Vollgas gibt, wenn die Räder längst unwiderruflich im Schlamm versunken sind, so hoffte er, sich aus der eigenen Ohnmacht befreien zu können, doch wenn er mit seinen Ideen allein auf weiter Flur stand, wenn ihm niemand dabei helfen wollte, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, dem Dreck, in den ihn wer auch immer tiefer und tiefer getrieben hatte … am Wochenende würde er zu Hause bleiben, Musik hören, nachdenken, vielleicht einen Waldspaziergang machen. Und vor allem: nüchtern bleiben. Zumindest übers Wochenende musst du nüchtern bleiben, Schäfer, ermahnte er sich, als er die Stiegen zur U-Bahn hinunterging und alle paar Meter an die prall gefüllten Einkaufstaschen gestresster Passanten stieß.

16
    Viel zu groß war die Villa für einen allein. Vor allem, wenn es dunkel war. Matthias Rudenz schaute aus dem Fenster. Aus den dicken Flocken vom Nachmittag waren feine Schneekörner geworden, die nicht länger sanft zu Boden sinken konnten, sondern den wütenden Böen des Nordwinds zu gehorchen hatten, der sie durch die Nacht peitschte. Er hatte seine Sommerreifen noch nicht ausgewechselt. Abgesehen davon, dass kaum jemand mit so einem heftigen Wintereinbruch gerechnet hatte, benutzte er den Wagen so selten, dass ihm derartige Arbeiten immer erst einfielen, wenn tatsächlich Schnee auf der Straße lag.
    Und jetzt sollte er fünfzehn Kilometer durch die Nacht fahren. Um einen Unbekannten zu treffen, der angeblich wusste, wie Laura gestorben war. Na wie wohl? Zu viele Tabletten hatte sie genommen, dazu Wein getrunken, ohnmächtig war sie geworden im heißen Badewasser und ertrunken. Einen Moment lang hatte er daran gedacht, die Polizei anzurufen – doch der Vorfall mit dem verrückten Major, der seine Terrassentür zertrümmert hatte, war ihm noch in zu guter Erinnerung, als dass er Lust auf ein erneutes Aufeinandertreffen hatte. Und warum nicht irgendwo in der Nähe? Es gab doch genug verlassene Parkplätze vor geschlossenen Einkaufszentren, wozu der Aufwand? Wozu nach Scheiblingstein? Na ja, vielleicht wohnte der ja dort irgendwo. Seltsam war das schon; aber auch nicht seltsamer als die letzten zwei Wochen; als das letzte halbe Jahr, um ehrlich zu sein. Rudenz sah auf die Uhr und ging ins Schlafzimmer, um sich warme Kleidung anzuziehen. Ohne das Licht im Haus abzudrehen, ging er in die Garage. Irgendwie war es ihm lieber, wenn es so aussah, als wäre jemand zu Hause. Er ließ das Garagentor hochfahren, startete den Wagen und rollte ins Freie. Als er an die Kreuzung zur Hauptstraße kam, blieb er länger als nötig vor dem Stoppschild stehen. Wo waren all die Autos hin? Ein Schneepflug donnerte vorbei, unter seiner Schaufel stoben orange Funken auf. Die Straße rief Fantasien aus seiner Jugend in ihm wach. Als er davon geträumt hatte, nachts das Haus zu verlassen und die Welt menschenleer vorzufinden. Und er könnte alles tun, wozu er Lust hätte: in Geschäfte einbrechen, sich mit allem vollessen, wonach es ihn gelüstete, ein Gewehr besorgen und auf alles schießen, was er immer schon zerstören hatte wollen, einen Sportwagen nehmen und auf der Autobahn dahinrasen, bis er das Ende Europas erreicht hätte. Doch nun wünschte er sich ein paar Autos herbei, als Vertrauen stiftendes Zeichen, als Beweis für die Ungefährlichkeit seiner Unternehmung. Da rollte ein Taxi heran, Rudenz wartete, bis es an ihm vorbei war, und bog auf die Hauptstraße ein. Er war früh genug losgefahren, um nicht schneller als 50 km/h fahren zu müssen – selbst wenn er im Schnitt nur vierzig machte, würde er rechtzeitig ankommen. Nach gut zehn Minuten hatte er sich einigermaßen beruhigt. Niemand, der aufblendete, hupte oder dicht auffuhr, weil er zu langsam war. Überhaupt niemand, der sich aggressiv verhielt in dieser unwirklichen Frühwinternacht. Auf der kurvenreichen Straße Richtung Scheiblingstein kam ihm ein einziges Fahrzeug entgegen. Zum Glück reflektierte der Schnee das Restlicht der Stadt, sodass er

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