Ohnmachtspiele
verfemt, weil du machst, wonach dir gerade ist … was sich viele andere nicht trauen … dafür bewundern sie dich insgeheim und gleichzeitig freuen sie sich, wenn es dich einmal auf die Schnauze haut … als ausgleichende Gerechtigkeit sozusagen … und Bergmann kannst du wirklich keine Schuld geben … ohne ihn …“
„Und was würdest du in dem Fall machen?“ Schäfer sah von seinem Zwiebelrostbraten auf, der es nicht annähernd mit dem aufnehmen konnte, den er von seiner Mutter in Erinnerung hatte.
„Als ob das eine Rolle spielen würde“, Bruckner lachte auf, „wenn du schon einmal so weit bist, dass du bei jemandem ohne Haftbefehl ins Haus einbrichst, dann wissen wir doch beide, dass du deinen eigenen Köder geschluckt hast.“
„Wenn ich da weitermache, haut mich der Kamp hinaus … außerdem kann ich ihm das persönlich nicht antun.“
„Das musst du mit dir selber ausmachen.“
Als sie das Wirtshaus verließen, fielen vereinzelte Schneeflocken vom Himmel. Bis zum Abend würde daraus ein richtiger Wintereinbruch werden, wenn man den Meteorologen Glauben schenkte. Schäfer konnte sich nicht erinnern, ob auf seinem Dienstwagen Sommer- oder Winterreifen montiert waren – hoffentlich hatte sich Bergmann darum gekümmert. Verdammt, fiel es ihm ein, er musste den Wagen in die Werkstatt bringen; auf eigene Kosten; das würde Kamp sonst den Rest geben.
Nach dem Essen spazierte er durch den ersten Bezirk und sah sich die Auslagen an. Vielleicht sollte er sich ein neues Hemd kaufen, einen Pullover oder gar einen Anzug – als Trost sozusagen. Doch in Zeiten gedrückten Selbstwertgefühls war Einkaufen keine gute Idee: Mit ein wenig Pech geriet er an einen skrupellosen und unter Provisionsdruck stehenden Verkäufer – ausgezeichnet, also ganz ausgezeichnet, wie auf den Leib geschneidert – und würde ein nutzloses Ding mehr im Kleiderkasten haben. Als er an einem Musikladen vorbeikam, blieb er stehen, nahm sein Telefon heraus und rief seine Nichte an. Wie es ihr ginge, was die Schule mache, was sie denn zurzeit höre, das ihm auch gefallen könnte? Euphorisch wegen seines Anrufs sprudelte sie ein paar Namen von Bands und Sängern herunter, die ihm alle nichts sagten. Wann er denn wieder einmal nach Salzburg käme? Er versprach ihr, sie in den nächsten Wochen zu besuchen, und verabschiedete sich. Im Musikladen fand er eine der CDs, die sie ihm empfohlen hatte, gleich bei den Bestsellern. Normalerweise machte ihn so etwas misstrauisch, diesmal überlegte er jedoch nicht lang und nahm sich eine. Dann rief er sich ein paar der Namen, die ihm seine Nichte genannte hatte, in Erinnerung und ging die Regale dem Alphabet nach durch. Seine Kaufentscheidung fällte er nach Coverbild und Namen. Nachdem er das Geschäft mit vier CDs verlassen hatte, stellte er sich in einem italienischen Espresso an die Bar, bestellte einen Cappuccino und zündete sich eine Zigarette an. Er ignorierte die koketten Blicke zweier Frauen schräg gegenüber, nahm seine Einkäufe aus dem Plastiksack und sah sich die Booklets an: ein Schwarzweißbild einer jungen dunkelhaarigen Frau, die unter zerknüllten Bettlaken hervorschaute. Eine weiß gekleidete Person, deren Geschlecht er nicht bestimmen konnte, mit einem Heiligenschein vor strahlend blauem Hintergrund. Ein entblätterter Laubbaum, ebenfalls schwarzweiß. Dann eine surreale Illustration aus Eulen, Hasen und verschiedenen Orchideen unter schwarzblauem Himmel, vom Mondlicht bestrahlt. Die letzte CD hatte er wegen des Namens der Band gekauft: flotation toy warning. Und warum fiel ihm bei dieser Warnung vor schwimmendem Spielzeug augenblicklich die tote Sonja Ziermann ein? Hatte sie sich doch nur zu weit übers Wasser gebeugt, um etwas aus dem Fluss zu retten? Eine Puppe vielleicht oder ein Stück Treibholz, das ihr aufgrund seiner Form gefallen hatte. Wie wollte er da jemals Gewissheit bekommen? Doch nur, wenn ein Verbrechen stattgefunden hatte. Dann gab es einen Täter, den konnte er finden. Was war denn besser: die Sinnlosigkeit eines so zufälligen wie unglücklichen Todesfalls oder der Mord, dem zumindest ein wie auch immer geartetes Motiv zugrunde lag? Er bezahlte und verließ das Lokal. Freitagnachmittag, die Menschen stürmten die Geschäfte, umso hektischer, als mit dem Schneefall auch eisiger Wind eingesetzt hatte. Langsam schlenderte Schäfer zur U-Bahn. Kamp hatte recht gehabt: Er musste Klarheit erlangen, sich über seine eigenen Gedanken stellen und in Ruhe sehen, was
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