Ohnmachtspiele
Abendmahls wieder auf dem Weg in die Küche war.
„Das frage ich mich auch“, rief Pürstl ins Klappern der Teller hinein, die er in den Geschirrspüler räumte. Und als er wieder am Tisch saß: „Wenn es sich um einen klassischen Frauenmörder handelt, dann lädt sich seine Tötungsenergie immer wieder auf, bis er sich seinem Drang ergibt und erneut tötet … aber in deinem Fall: da ist von vornherein beschlossen, dass Menschen sterben werden … beim gängigen Zweimannschnapsen mit zwanzig Karten mindestens zehn, wenn wir davon ausgehen, dass nur die zu Opfern werden, deren Karte gestochen wird … abartig … eigentlich hoffe ich, dass du dich gewaltig irrst …“
„Möglich“, erwiderte Schäfer, „doch vorerst ist es der einzige Anhaltspunkt und den gebe ich so schnell nicht auf … sag mir, welche Komponente so ein Spiel in ein Verbrechen bringt … warum spielen sie, wenn sie auch so töten könnten … leg dich irgendwo mit einem Gewehr auf die Lauer und schieß den Erstbesten ab, der dir unterkommt … du weißt, wie die Chancen stehen, dass du erwischt wirst, wenn du dich nicht ganz blöd anstellst …“
„Das eine ist ein kaltblütiger Mord, das andere ein Spielzug“, überlegte Pürstl, „in beiden Fällen sind die Opfer entmenschlicht, Figuren einer perversen Machtfantasie … aber das Spiel stellt auch einen Schutz dar… es gibt dir Ordnung, einen Raum …“
„Den man betreten und verlassen kann“, schloss Schäfer.
„Genau. Auf der einen Seite das drängende Verlangen, Macht zu gewinnen … seine eigene Ohnmacht überwinden durch das Auslöschen eines fremden Lebens … die klassische Triebstruktur eines Serienmörders … aber innerhalb des Spiels eine Rechtfertigung durch die Regeln, die schon lang vorgegeben sind …“
„Und außerhalb des Spiels … im Alltag … funktionieren sie ganz normal und halten sich an die gesellschaftlichen Regeln …“
„Ist eine Möglichkeit … das Spiel einmal als eigener Raum, in dem sie ausleben, was ihnen außerhalb verwehrt bleibt … was sie sich vielleicht sogar aus moralischen Gründen selbst verwehren … und gleichzeitig als Zone, wo sie ihre Hemmungen und ihre Schuldgefühle ablegen können …“
„Erwachsene, die sich in ein Spiel flüchten, weil dort eigene Regeln herrschen … und von den gesellschaftlichen Regeln und Gesetzen spalten sie sich ab … das machen Kinder auch. Wenn du denen zusiehst, die sind so ernst dabei, das ist die Wirklichkeit …“
„Du glaubst nicht wirklich, dass da Kinder oder Jugendliche dahinterstecken, oder?“, fragte Pürstl skeptisch.
„Natürlich nicht … aber Erwachsene mit einem kindlichen Element … die nur nach außen hin integriert sind … die irgendwas einmal aus der Bahn geworfen hat, irgendein traumatisches Erlebnis … und dann gehen sie spielen, weil ihnen das Sicherheit gibt … weil sie dort beweisen können, was sie draufhaben …“
„Eine klassische Initialzündung … gebe ich dir bei fast allen Serienmördern und Amokläufern recht … aber hier bin ich mir nicht sicher …“
„Warum?“, wollte Schäfer wissen. Er hielt Pürstl sein leeres Weinglas hin und ärgerte sich sofort, dass er seinen Vorsatz, weniger zu trinken, so widerstandslos fallenließ. Pürstl und seinem vorzüglichen Blaufränkischen konnte er dafür nicht die Schuld geben. Der Leutnant wäre auf ein Wort von Schäfer sofort in die Küche gegangen, hätte einen Liter Wasser aufgekocht, auf siebzig Grad abkühlen lassen und irgendeine japanische Grünteespezialität aus erster Pflückung aufgegossen. Mangelnde Kontrolle, noch ein Thema für die nächste Therapiesitzung.
„Mehr so ein Gefühl … dass sie von ihrem alltäglichen Leben oder was auch immer frustriert sind und sich diese Fantasiewelt schaffen, kann gut sein … doch was die Hintergründe angeht …“
„Kommt da noch was?“, fragte Schäfer, nachdem Pürstl in Schweigen verfallen war.
„Ja … ich habe nur an den Mann denken müssen, der vorige Weihnachten seine beiden Töchter, seine Frau und seine Eltern mit einer Axt erschlagen hat …“
„Ja, kann ich mich erinnern …“
„Da hat es davor keine großen Konflikte gegeben … keine Scheidung, keine dauernden Kränkungen, keine Kündigung … Schulden, ja, aber wer hat die nicht … der ist mit dem Leben nicht mehr fertiggeworden … solche Fälle haben wir früher nicht in dieser Häufung gehabt … jetzt passiert das einmal im Monat …“
Schäfer sah Pürstl an, der
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