Ohnmachtspiele
auf sein Glas stierte und es mit Zeigefinger und Daumen um die eigene Achse drehte. Er kannte die Statistik zu wenig, sodass er Pürstl in diesem Punkt weder zustimmen noch unrecht geben konnte. Familientragödien dieser Dimension waren zudem eher am Land zu finden und Schäfer versuchte diese Fälle zu ignorieren, so gut es ihm möglich war. Doch er wusste, dass es Pürstl nicht um die Anzahl der Tötungsdelikte oder die dadurch entstehende Mehrarbeit ging. Es ging um den Verlust von Sicherheiten, um die zunehmende Bedrohung durch abstrakte Themen wie Globalisierung, Wettbewerbsfähigkeit, Mobilität, Rationalisierung, Migration, es ging um einen Wertewandel, der den wirtschaftlichen Erfolg über alles stellte, um Menschen, die sich schämten, nicht Schritt halten zu können, um Frauen, die verzweifelten und sich mitsamt ihren Kindern töteten, um Männer, die das Gefühl des Versagens in Fremd- oder Autoaggression verwandelten. Seine Täter? Menschen, die auf der Strecke geblieben waren und es der Gesellschaft heimzahlten, indem sie, anstatt sich mit einem Kartenspiel vor der Welt in die Kneipe und zum Alkohol zu flüchten, in regelmäßigen Abständen töteten, um sich ihrer Macht zu versichern? Oder ganz anders: zwei Psychopathen, denen ihr wirtschaftlicher Erfolg nicht mehr genügte; denen der Geschmack des Geldes schal geworden war; die ihre hohle Existenz nun, da es nichts mehr zu erobern gab, auf den Leichen Wehrloser errichteten? Was für eine beschissene Welt.
„Wie schaut es eigentlich bei dir zurzeit mit den Frauen aus?“, wollte Pürstl wissen, während er den Korkenzieher in die zweite Weinflasche drehte. Ein Themenwechsel, dem Schäfer gern folgte. Denn auch wenn es auf diesem Gebiet nichts Neues zu berichten gab, war es doch die beste Weiche, um den Abend auf ein behaglicheres Terrain zu führen.
Kurz vor elf kam Pürstls Frau nach Hause. Sie blieb eine Viertelstunde mit ihnen am Tisch sitzen und ging dann schlafen. Mittlerweile neigte sich die zweite Flasche Rotwein dem Ende zu und die beiden übertrafen sich gegenseitig darin, die komischsten Ereignisse ihrer Polizistenlaufbahn zu Szenen einer grotesken Komödie auszubauen.
„Euch hört man ja bis zu den Nachbarn hinüber!“ Pürstls Frau stand plötzlich wieder im Wohnzimmer. „Du fährst heute nicht mehr heim, Johannes … ich habe dir im Gästezimmer das Bett bezogen.“
„Danke, Frau Leutnant“, antwortete Schäfer mit kindlich verstellter Stimme, „darf der Josef heute auch drinnen schlafen?“
„Gute Nacht, ihr Spinner.“ Sie zog die Augenbrauen hoch und schloss die Wohnzimmertür hinter sich.
Schäfer befand sich auf der Autobahn Richtung Wien, als ihm schlagartig bewusst wurde, dass er etwas Wichtiges übersehen hatte. Er fuhr auf den nächsten Rastplatz, nahm sein Telefon heraus und rief Bergmann an. Er solle ihm die Nummer von Harald Ziermann geben. Schäfer notierte sie sich auf einem Parkschein, legte auf und rief Ziermann an.
„Guten Tag, Herr Ziermann, Major Schäfer von der Kriminalpolizei … Möglicherweise … aber da kann ich Ihnen jetzt noch keine Details geben … warum ich sie anrufe: Kann ich sie heute noch irgendwo treffen … Und welche Schule ist das? … Im achtzehnten Bezirk … Ja, das finde ich … Vielen Dank … Ja, bis um eins dann …“
Wie hatte ihm entgehen können, dass auch Harald Ziermann ein potenzielles Opfer war? Der Herzkönig – schließlich war auch der Mann von Laura Rudenz ermordet worden. Und auch wenn Schäfer noch keinen Einblick in die Spielzüge hatte: Ziermann uninformiert zu lassen, wäre fahrlässig. Zudem: Ziermanns Tochter war zehn Jahre alt, zehn, der Zehner. Und wenn der Täter davon wusste – wovon Schäfer ausging –, dann war auch sie in Gefahr.
Um zehn Uhr parkte er seinen Dienstwagen in der Tiefgarage der Sicherheitsdirektion. Er nahm den Aufzug in den zweiten Stock und ging in sein Büro. Bergmann war nicht auf seinem Platz, dafür fand er auf seinem Schreibtisch eine Mappe, die ihm Kovacs hinterlegt hatte. Eine Liste von Personen, die möglicherweise mit dem Schweizer zu tun gehabt hatten, Obdachlose, Junkies, Stricher, ansonsten schien es keine bedeutenden Neuerungen zu geben. Für die kurze Zeit, die Kovacs zur Verfügung gehabt hatte, war das aber ohnehin mehr, als Schäfer erwartet hatte. Er musste sie beizeiten für ihre schnelle Arbeit loben. Während er die wichtigsten Fakten in sein eigenes Dokument einfließen ließ, kam Bergmann zurück. Koller habe
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