Ohrenzeugen
senior beugte sich vor. »Ja, ich hab’ in der Zeitung davon gelesen. Scheint ja ein netter Kerl gewesen zu sein, dieser Kleintierbauer!« Heiko machte »Hm« und meinte dann: »Ach, weißt du, wenn man sich so mit dem Fall befasst, dann kommen verschiedene Meinungen über einen Menschen bei einem an.«
Der Vater brummte zustimmend. »Und scheint’s habt ihr noch keine heiße Spur?«
Heiko schürzte die Lippen. »Wie kommst du denn darauf?«
Sein Vater angelte umständlich die Zeitung von der Couch und reichte sie ihm. »Seite 21!«, informierte er knapp.
Heiko blätterte in den Lokalteil und sah die riesige Schlagzeile sofort: ›Polizei tappt immer noch im Dunkeln‹. Sofort begann es in ihm zu brodeln. Er las weiter.
›Im Fall des Mordes an dem beliebten Tiefenbacher Kleintierzüchter Rudolf Weidner tappt die hiesige Polizei weiterhin im Dunkeln. Der Leiter der Dienststelle, Polizeioberkommissar Georg Ullrich, teilte mit, die Polizei würde zwar mehrere Spuren verfolgen, eine heiße sei aber noch nicht dabei. Das HT hat eine Nachbarin der Weidners befragt, die uns die Information gab, dass ein guter Bekannter von Rudolf Weidner mit schweren Verletzungen im Krankenhaus liege. Der Mann ist noch nicht wieder ansprechbar. Ob und inwieweit die gefährliche Körperverletzung im Zusammenhang mit dem Mord steht, das hat die Polizei zu klären!‹
Heiko warf das Blatt missmutig auf die Couch zurück. »Kommen die Oma und der Sieger auch?«, fragte er.
Wüst senior schüttelte den Kopf. »Der Sieger muss schaffen.«
Seine Mutter kam herein und stellte die Kaffeekanne auf den Tisch. Es war DIE Kaffeekanne, seit 30 Jahren, genau, wie es DAS SERVICE war, seit ebenfalls 30 Jahren. Grau-weiß, mit Jagdmotiv. Ein Klassiker.
»Ist was?«, fragte sie. Heiko äugte zum HT hin und beschloss dann, sich von der Meldung nicht den Tag verderben zu lassen.
»Nein, alles okay«, log er also.
Seine Mutter lächelte und stellte mit ausladender Bewegung die Vase mit dem Tankstellenblumenstrauß auf den Tisch, um ihn dann mit Entzücken im Blick zu betrachten. »Und was macht die Liebe?«, fragte sie nun standardmäßig, während sie sich setzte.
Heiko räusperte sich. Seine Mutter zog die Augenbrauen hoch, weil sie wohl ahnte, dass sie diesmal eine andere Antwort als das übliche »Nix« erhalten würde.
»Nun, es gibt da eine Kollegin, die mir gefällt!«, gab er zögernd zu.
»Und?«, fragte seine Mutter, die vor ihrem geistigen Auge offenbar schon die Enkel herumtapsen sah.
»Ja, läuft!«, meinte Heiko. »Mal sehen, ob was draus wird.«
Und dann war es wie jedes Jahr gewesen. Sie hatten auf die ›Muader‹ angestoßen, erst mit Sekt, dann mit Kaffee. Dann hatten sie wie jedes Jahr die Hälfte der fantastischen Mokkatorte vernichtet. Und dann hatten sie noch gemütlich beieinander gesessen, waren ein bisschen spazieren gegangen und dann wieder um den Wohnzimmertisch gehockt, bis um sechs. Dann waren so langsam die Nachbarn eingetrudelt und nach einer Weile hatte sich Heiko dann verabschiedet.
Er fühlte sich wohl bei seinen Eltern. Auch wenn das mit dem Älterwerden schon seltsam war. Es war wirklich betrüblich zu sehen, wie sie alt wurden.
Sie waren immer jung gewesen, jung und stark. Nun durchzogen graue Strähnen das Haar seiner Mutter, ihr Gesicht war immer noch schön, ja, aber faltig.
Und sein Vater ging gebeugter als früher, hatte öfter als in der Vergangenheit die Hände in den Hosentaschen. Und er hatte angefangen, Strickwesten zu tragen, diese hässlichen Dinger, die auch der Oberstudienrat trug. Das machte ihn älter. Irgendwie seltsam.
Sonntag, 26. April
Heute war Adlersonntag. Adlersonntag bedeutete Mittagessen mit Sieger im Adler.
Der ›Adler‹ war das Dorfrestaurant in Eltershofen.
Eltershofen war eines jener Dörfer, in denen jeder jeden kannte und auch jeder über jeden Bescheid wusste.
Und genau genommen, war der Adler kein Restaurant im eigentlichen Sinn.
Obwohl. Es gab durchaus eine Karte mit kleinen Speisen. ›Was Gscheits‹, also ›An Bolla Fleisch und a Rängele Eebira‹ oder Ähnliches gab es allerdings nur sonntags.
Und deshalb ging Sieger jeden Sonntag nach Eltershofen in den Adler zum Essen. Und bekam sozusagen vom Familienessen ab. Die Wirtsfamilie aß im Hinterzimmer des Restaurants und die Gäste vorne.
»Und was gibt’s heut?«, fragte Sieger die Wirtin, auch ›Wirte‹ genannt.
Die ältere, üppige Frau im blauen Blümchenkleid linste über ihre Brille. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher