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Ohrenzeugen

Titel: Ohrenzeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wildis Streng
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Geschenk!«
    Heiko entging nicht, dass die Frau das Geschenk lediglich als ›nett‹ bezeichnet hatte, aber zu mehr würde es nun wohl nicht mehr reichen.
    Er fragte also ergeben: »Helfen Sie mir?« Sehr professionell interviewte ihn die Dame nun über die Badezimmereinrichtung seiner Eltern. Heiko hatte keine Ahnung.
    »Grau, glaub ich!«, riet er.
    »Also wissen Sie, dieses Jahr ist ja Lila Trendfarbe. Wir haben ein ganzes Lilathema im Sortiment!«
    Heiko hatte keine Ahnung, was ein Lilathema war, nickte aber billigend.
    »Ich stell’ Ihnen da mal was zusammen«, sagte die Verkäuferin und lächelte aufmunternd. In den nächsten fünf Minuten riss sie ein Päckchen lilafarbenen Sand auf und kippte ihn in das Marmeladenglas, obendrauf kamen einige lila gefärbte Holzstücke und ein Päckchen weiße Turmschnecken. Schließlich krönte sie ihr Werk mit einer riesenhaften lilafarbenen Stumpenkerze und fragte dann: »Einpacken?«
     
    Anderthalb Stunden später fuhr er mit dem kunstvoll in Klarsichtfolie verpackten Glasteil und einem Blumenstrauß von der Tankstelle bei seinen Eltern vor.
    Die Verpackung sah zwar schön aus, erfüllte aber seiner Meinung nach kaum den Zweck einer Geschenkverpackung, weil man ja schließlich hindurchsehen konnte. Nun gut, schien gerade ›in‹ zu sein. Er parkte den Wagen und betrachtete einen Moment lang sinnend das Haus. Hier in Westgartshausen war er aufgewachsen. Das Dorf war klein, sehr klein, er glaubte sogar, dass es nicht einmal ganz tausend Einwohner hatte.
    Obwohl es in der Umgebung auch Dörfer mit nur 100 Einwohnern und weniger gab. Aber solche Käffer waren ihm zu verhockt, zu eng, man lebte zu nah aufeinander und bekam von den Nachbarn alles mit. Furchtbar. Nicht sein Geschmack. Aber es gab Leute, die mochten das. Westgartshausen jedenfalls war anders.
    Seine Kindheit hier war traumhaft gewesen, wunderschön. Im Winter konnte man auf dem zugefrorenen Fischweiher Schlittschuh fahren, im Sommer durch die weiten Wiesen toben und durch den Wald streifen.
    Sein Onkel Sieger hatte hier einige seiner Wiesen und Heiko hatte die Heuernte in guter Erinnerung. Nirgends hatten die Wurstbrote so gut geschmeckt wie in der Mittagspause beim Heumachen. Als Tisch hatten dabei die ersten Heuballen gedient, die aus jener riesenhaften Maschine ploppten, die schon so manch unvorsichtigem Bauern einen Teil seines Armes gekostet hatte und vor der der kleine Heiko einen Heidenrespekt gehabt hatte.
    Schon wurde die Haustür geöffnet und seine Mutter stürmte heraus, ihn scheltend, dass er sich so selten blicken ließe.
    »Alles Gute zum Geburtstag, Mama«, sagte er und streckte seiner Mutter den Tankstellenblumenstrauß und das komische Kerzendings hin.
    »Das sind aber schöne Blumen, danke! Und das Windlicht, hach, da hast dir ja richtig Gedanken gemacht, mei Buale! Schön hast du’s ausgesucht, ganz toll!«
    Heiko fühlte sich wie ein Dreijähriger, der vom Kindergarten ein schönes Bild mit heimbrachte und dann dafür gelobt wurde.
    Er lächelte und hütete sich zuzugeben, dass er beim Aussuchen große Hilfe gehabt hatte.
    Seine Mutter drückte ihn so fest, dass ihm fast die Luft wegblieb, was man ihr eigentlich gar nicht zutraute, wenn man sie sich so ansah. Aber sie hatte ihn eben lieb.
    »Du siehst ja ganz verhungert aus, du isst zu wenig, Bua«, fuhr seine Mutter fort.
    »Quatsch«, widersprach Heiko und rüttelte an seinem kleinen Bauchspeckröllchen.
    Seine Mutter winkte ab. »An einem Kerl muss ein bisschen was dran sein! Aber jetzt komm’ erst mal rein!«
    Drinnen empfing ihn der vertraute Geruch seines Elternhauses. Er hatte bereits gelernt, dass jeder Ort einen eigenen Geruch hatte. Und der seines Elternhauses war unverwechselbar. Unbeschreibbar. Vielleicht nicht gerade blumig. Aber er führte dazu, dass er sich jedes Mal, wenn er das Haus betrat, sofort in seine Kindheit zurückversetzt fühlte. Auch deshalb, weil seine Mutter ihn wie einen kleinen Jungen behandelte.
    »Setz dich, ich komm gleich«, bestimmte sie und stellte das komische Kerzendings wie einen Pokal auf den Tisch, der schon immer als ›Gabentisch‹ gedient hatte. Sein Vater ließ sich neben ihm auf dem Stuhl nieder und musterte ihn wohlwollend.
    »Und, wie läuft’s?«, fragte er.
    Heiko löste seine Blicke von der gigantischen Mokkatorte und sah seinen Vater an. Alt war er geworden, alt. Es war seltsam, den eigenen Vater alt zu sehen. Ein Vater hatte stark zu sein.
    »Gut. Interessanter Fall!«
    Wüst

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