Okarina: Roman (German Edition)
ach, zurück; davon kann keine Rede sein.Mit siebzig/plus ist man für Höhlen und Gruben gut. Der dauerhafteste aller Permafröste wartet; ein Feuerchen noch, Asche zu Asche, vor dieser nicht sehr lieben Seele habt ihr, wartet nur, balde Ruh. Fragt sich dennoch, was mich Esel aufs Eis zog. Fragt sich, was ich mir versprach. Fragt sich, was ich mir verspreche, indem ich davon spreche. Ich ahne einen Grund und will von der Fahrt und dem, was ihr folgte, erzählen. Zum Ausgang wähle ich einen Punkt, an dem ich der Alster beträchtlich ferne war:
Herbst 1947. Ich bin das erste Mal im Kreml. Der Begleiter begleitet mich aus dem Zimmer, in dem mich Stalin zum Ideengefäß ernannte und mir auf der Okarina spielte. Ich kann nicht mehr sagen, wo es lag, und fragen konnte ich nicht gut. Der Begleiter gibt mir ein Päckchen und übergibt mich auf dem Kremlhof einem anderen Begleiter. Es ist Anfang Oktober; ich rieche nahen Schnee. Und im Wagen, der einem älteren Opel ähnelt, rieche ich Brot von dunklem Schrot und Korn, Räucherfisch, groben Käse und druckfrische Prawda . Bei unzureichendem Licht und ähnlichem Kyrillisch entziffere ich Kominform, Konferencja und Warszawa .
Nachts um eins 1947 machte die Gorkistraße, die längst wieder Twerskaja heißt, nicht viel her. Jedoch ließen die spärlichen Lampen am Wegessaum von Breite ahnen und die Länge der Fahrt von Länge. Im Laufe der Jahrzehnte, in denen die Magistrale zu Licht und Verkehr kam, bin ich so oft über sie ins Zentrum gefahren, daß sich der Eindruck anbot, Moskau sei ein gigantisches Straßendorf. Er traf ähnlich zu, wie die Ansicht zugetroffen hätte, Warschaus vergleichbar lange und breite Marszałkowska sei immer noch in dem Maße belebt, von dem das Vorkriegs-Lexikon berichtet. Weder auf dem Moskauer Hauptverkehrsweg noch auf dem von Warschau sah ich nennenswert viele Mitpassanten. Entsprechend wenige sahen mich.
So sollte es sein. Man hatte für den Transport vom Kreml ins Lager zurück Stunden gewählt, in denen alles unbelebt lag wie das Urstromtal Berlin-Warschau, als es noch keinen Namen hatte. Abgesehen von dem einen oder anderen Begleiter wie auch von der einen Begleiterin kam ich unerkannt von derMoskwa an die Weichsel zurück. Abgesehen von einer Unterbrechung kehrte ich geradenwegs in meine Baracke heim. Abgesehen von einem Aufenthalt, der eine Woche währte, wurde ich pfeilschnell von Ost nach West befördert.
Schnell wohl, aber nicht weit genug. Von mir aus hätte es vom Roten Platz über die Gorkistraße bis Marne, Süderdithmarschen, gehen können. Oder wenn schon nicht Marne, so doch Hamburg-Dammtor, wo in allernächster Nähe die Alster fließt, beziehungsweise sich zu Buten- und Binnenalster verbreitert. Aber meine Begleiter brachen die Reise in Warschau ab, und unterbrachen sie vorher für sieben Tage.
Brachten mich in ein Kinderheim und ließen mich an meiner Legende wirken. Ein neuer Posten holte mich in der Vorstadt aus dem Zug. In Praga, wo ich schon einmal aus einem Zug geholt worden war. Natürlich hatten wir dunkle Nacht, natürlich sah man mich nicht, natürlich sah ich nicht, wo ich mich befand, und wüßte den Ort so wenig wie Stalins Zimmer zu finden. Der Begleiter befahl mich in seinen Jeep und zeigte mir, daß rallye auch auf polnisch rallye bedeutet.
Seine Nachfolgerin war von anderer Art. Sehr offen. Trug die Pistole am Koppel und nicht wie die Herren unterm Jackett. Erklärte, ich sei auf Bildungsreise, das Wort sprach sie deutsch, nämlich zwecks Arbeit bei ihr. »Celem roboty«, sagte sie, und zunächst ergab sich ein Mißverständnis. Nicht mit robota , dem Wort für Arbeit; das hatte man mir in polnischen Jahren eingeprägt. Vielmehr mit der Präposition zwecks , die celem lautet. Aus Gründen, die ebenfalls in meinen polnischen Jahren lagen, hörte sich celem nach einem Behältnis an, das mir unter der einheimischen Bezeichnung cela und meiner heimischen Bezeichnung Zelle bekannt war.
Celem roboty , das wird heißen, ich soll in einer Zelle arbeiten. Es war ein Gedanke, bei dessen Ausformung mir die Pistole am Gürtel der Begleiterin half. Eine Tätigkeit in solchem Lokal durfte ich nicht unvertraut nennen, nur wunderte mich, daß wir in kein Gefängnis fuhren, sondern in ein ländliches Gebäude, das ein Kinderheim zu sein schien. »Celem pracy drukowniczej«, sagte meine neue Aufsicht. Auch wenn sie dabei nicht auf eine Halde aus arg verstreuten Lettern gedeutethätte, wäre verständlich geworden, daß
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