Oksa Pollock. Der Treubrüchige
weiter gekommen, egal, was wir gemacht haben«, sagte Zoé.
»Was könnte das sein?«, flüsterte Oksa und starrte die Tür an. »Ein Geheimgang?«
Zoé und Tugdual sahen sie zögernd an.
»Nein, meine Kleine Huldvolle, kein Geheimgang. Es ist viel besser«, antwortete Tugdual schließlich. »Ich glaube, wir stehen vor der Kammer des Umhangs!«
Angriff vor der Kammer des Umhangs
A
ber ja, logisch!«, rief Oksa und schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Es kann ja gar nichts anderes sein! Wow … die Kammer des Umhangs!«
Sie drückte das Gesicht gegen die unsichtbare Wand, die ihr den Weg versperrte, und spürte, wie diese auf einmal nachgab und sie in sich aufzunehmen schien.
»He!«, rief sie. »Seht mal, das ist fast, als ob ich mich da reindrücken kann!«
Sie versuchte, mit Gewalt einen Schritt weiterzugehen, doch es gelang ihr nicht. Sie stieß gegen einen Widerstand.
»Denk daran, was Ocious gesagt hat: Die Kammer ist noch nicht bereit«, gab Tugdual zu bedenken. »Es kann noch Tage dauern.«
Der Hinweis versetzte Oksa einen Stich. Bisher war es immer Gus gewesen, der sie ermahnt hatte nachzudenken, geduldig zu sein, ihren spontanen Anwandlungen nicht immer gleich nachzugeben. Sie holte tief Luft, verstört von der unangenehmen Erkenntnis, dass sie, wie die meisten Menschen, herzlich wenig in ihrem Leben unter Kontrolle hatte.
Man hatte ihr immer gesagt, dass man im Leben die Wahl hatte, und diese Vorstellung gefiel ihr, weil sie einem zumindest eine gewisse Kontrolle einräumte. Zwar bestimmte das Schicksal die Regeln – davon war Oksa überzeugt –, aber man hatte immer eine Wahl und damit letztendlich die Macht. Die Macht, mit der man alles zum Kippen bringen konnte, in die eine oder andere Richtung. Doch inzwischen fand Oksa, dass das eigentlich gar nicht stimmte. Der Beweis? Man hatte sie von den Menschen getrennt, die sie liebte, ohne dass sie irgendetwas dagegen hatte ausrichten können. Und jetzt fand sie sich in einer Welt wieder, die im Todeskampf lag, und hatte diese kolossale Verantwortung zu tragen. Sie hatte das Gefühl, ihrem Schicksal ohne jeden Handlungsspielraum ausgeliefert zu sein. Es sei denn … Ganz aufgeregt drehte sie sich zu ihren beiden Freunden um.
»Ich habe eine Idee! Ich werde mich einfach hier verstecken, bis die Kammer bereit ist. Dann werde ich mich in mein Amt einsetzen lassen, ohne dass die Mauerwandler es mitbekommen, ich werde zur Huldvollen, bringe die Welten ins Gleichgewicht, wir holen uns die Tochalis, gehen alle zum Tor, ich öffne es, und wir kehren nach Da-Draußen zurück – zu Mama, Gus und den anderen!«
Tugdual und Zoé sahen alles andere als begeistert aus.
»Klingt verlockend«, gab Tugdual zu, »aber du hast da wohl ein paar Kleinigkeiten vergessen. Das Ganze ist um einiges komplizierter, Oksa. Tut mir leid, wenn ich den Spielverderber machen muss.«
Oksa sah ihn mit großen Augen an. Zum ersten Mal hatte er sie mit ihrem Vornamen angesprochen.
»Niemand weiß, ob wir je wieder aus Edefia herauskönnen, noch was der Preis dafür wäre, wenn es denn möglich sein sollte«, fuhr er fort. »Wenn du dabei dein Leben lassen müsstest, käme es nicht infrage. Dann bleiben wir alle hier.«
Wütend stampfte Oksa mit dem Fuß auf dem steinernen Boden auf.
»Und ich muss mich für den Rest meines Lebens in irgendeinem Loch verstecken, damit Ocious mich nicht findet. Tolle Aussichten …«
»Ocious ist nicht unsterblich«, gab Zoé zu bedenken.
Oksa hob abrupt den Kopf. Sie hatte den Eindruck, dass Zoé, wenn es darum ging, ihren Clan zu verteidigen, dieselbe erbarmungslose, schreckliche Entschlossenheit an den Tag legen konnte wie Remineszens.
»Stimmt. Aber leider ist er nicht der Einzige, der große Ambitionen in Bezug auf Da-Draußen hat«, wandte Tugdual ein.
»Da hast du auch wieder recht«, gab Zoé zu. »Aber wir könnten kämpfen …«
Tugdual nickte. Unter Zoés zartem Äußeren verbarg sich eine echte Kriegerin.
»Ich habe noch einen zweiten Einwand, Oksa«, fuhr Tugdual fort. »Vergiss nicht, dass du auf Ocious angewiesen bist, um das Mauerwandel-Elixier zu bekommen, sonst …«
Er sprach nicht weiter, sondern blickte nur düster vor sich hin.
»Sonst sterbe ich«, vollendete Oksa leise den Satz.
Sie ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder und fing an, mit dem Finger Linien in den glitzernden Staub zu zeichnen. Sie schämte sich für ihren unbedachten Plan. Körperlich mochte sie gewachsen sein, aber ihr
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