Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Verstand hatte rein gar nichts von seiner ungestümen, überstürzten Art verloren.
Tugdual blieb stehen, die Hände in den Taschen vergraben, und beobachtete sie mit seinen eisblauen Augen. Zoé hingegen kniete sich neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Ein Stück weiter weg funkelte die Tür zur Kammer in einem übernatürlichen Glanz. Gab es denn wirklich keine andere Lösung, als sich zu fügen und alles brav zu erdulden, was auf sie zukam?
In diesem Augenblick nahm Oksa eine Bewegung wahr. Das Licht war inzwischen so grell geworden, dass sie zunächst nichts sehen konnte. Dann warf sich Tugdual plötzlich auf sie und drückte sie mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Oksa stieß einen Schreckensschrei aus, während Zoé Hände voll glitzerndem Staub in die Luft warf. Ein Schwarm Chiropter war in den unterirdischen Kuppelsaal eingedrungen. Die insektenartigen Biester zogen Kreise an der Decke, bevor sie langsam näher kamen. Das Surren ihrer Flügel löste bei Oksa eine Übelkeit aus, in die sich Panik und Ekel mischten. Unerträgliche Schmerzen schossen durch ihren Körper. Sie presste sich die Hände auf die Ohren – ein, wie sie sehr wohl wusste, vergeblicher Versuch, die Schallwellen zu stoppen, die gnadenlos in ihrem Innern vibrierten. Als ob sie über jede Hautpore in sie eindrangen und auf ihrem Weg alles zerstörten, ihre Nerven, ihre Organe, bis ihr ganzer Körper Höllenqualen litt.
Tugdual feuerte ein Lichterloh nach dem anderen ab, um die Chiropter auf Abstand zu halten, während Zoé alle Mittel einsetzte, die ihr zur Verfügung standen: Granuks, den Magnetus und Hände voll Staub … Trotzdem gelang es drei der Chiropter, ihre Verteidigung zu durchbrechen und sich Oksa zu nähern. Die Junge Huldvolle starrte sie angstvoll an, während sie sich vor Schmerzen krümmte. Je näher ihr die Chiropter kamen, umso schlimmer wurden die Schmerzen. Tugdual stieß einen Wutschrei aus und konnte einen der Chiropter mit einem Lichterloh ausschalten. Zoé erledigte kaltblütig die anderen beiden, indem sie sie mit einer erstaunlich kraftvollen Geste so heftig gegeneinanderdonnern ließ, dass sie explodierten und ihre leblosen Überreste zu Boden fielen. In diesem Moment bemerkte Oksa den Schatten eines Mannes. Sie sah, wie Tugdual den Kopf hob und versuchte, den vertikalierenden Mann am Näherkommen zu hindern. Vergeblich. Zwei schwarze Stiefel landeten neben ihr auf dem Boden, nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Sie spürte noch, wie Tugdual über ihr zusammensackte, dann versank sie in Bewusstlosigkeit.
Alles wirbelte in ihrem Kopf durcheinander, sodass sie nicht zu sagen vermochte, ob das, was sie sah, Wirklichkeit war oder eine Art Albtraum. Sie hatte keine Schmerzen mehr, was aber nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein musste. Jemand trug sie, da war sie sich so gut wie sicher. Sie hörte eilige Schritte und gedämpfte Stimmen. Mehrere Personen gingen neben ihr her. Das Gesicht des Mannes, das sie den Bruchteil einer Sekunde lang gesehen hatte, bevor sie die Besinnung verlor, kam ihr wieder in Erinnerung, wurde jedoch im selben Moment von einem schwarzen Nebel verhüllt.
Orthon war nicht überrascht gewesen, Oksa und ihre beiden Freunde vor der Kammer des Umhangs zu finden. Als er den benommenen Hellhörigen begegnet war, die gerade Ocious über die »Flucht« der Jungen Huldvollen informieren wollten, hatte er sofort seine Chance gewittert.
»Ihr braucht meinen Vater nicht zu stören, er ruht sich aus«, hatte Orthon die Hellhörigen angewiesen. »Ich kümmere mich selbst um die Angelegenheit.«
Doch die geflügelten Raupen hatten gezögert.
»Der Cicerone hat uns befohlen …«
» Was hat er euch befohlen?«, hatte Orthon sie scharf unterbrochen.
»Ihn persönlich zu informieren, falls es irgendein Problem gibt. Ausschließlich ihn oder seinen Sohn, niemanden sonst.«
Orthon hatte tief Luft geholt, einerseits um sich zu beruhigen, andererseits um seiner Autorität Nachdruck zu verleihen.
»Und wer bin ich?«
Die Hellhörigen waren von dieser Frage ziemlich verwirrt.
»Ihr seid der Sohn des Cicerone.«
»Na also«, hatte Orthon triumphierend festgestellt.
»Aber der Cicerone meinte seinen Sohn Andreas.«
»Mag sein! Aber indem ihr mir die Nachricht mitgeteilt habt, die ihr ihm überbringen wolltet, habt ihr eure Pflicht erfüllt. Ich bin schließlich der erste Sohn von Ocious, der lange vor Andreas auf die Welt kam.«
Den Hellhörigen war nichts anderes übrig
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