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Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Titel: Oksa Pollock. Der Treubrüchige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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sah ihn von der Seite an.
    »Nein. Ich war sowieso viel zu aufgewühlt, um zu schlafen. Also hab ich den Himmel betrachtet, nachgedacht, mich wieder beruhigt.«
    Oksa zögerte.
    »Willst du darüber reden?« Im Geiste sah sie Tugduals gequältes Gesicht neben der bewusstlosen Kukka.
    »Ist alles nicht so wichtig.«
    »Und ob es das ist!«
    Wie sollte sie ihm bloß vermitteln, dass sie sterbensneugierig war und zu gern mehr erfahren würde? Doch mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde Tugdual verschlossener. Genau das Gegenteil von dem, was sie erhofft hatte. Wie kompliziert dieser Junge war! Sie beschloss, ihn lieber nicht weiter zu drängen. Aber tat sie das wirklich seinetwillen oder nur, um diesen schönen Moment nicht zu zerstören? Sie wusste es selbst nicht so genau.
    »Deine Mutter ist jedenfalls eine richtige Schönheit. Und dein kleiner Bruder total süß«, sagte sie schließlich.
    Tugdual zeigte keinerlei Reaktion, außer vielleicht, dass seine Hände ein winziges bisschen zitterten. War es die Kälte oder lag es an seinen Gefühlen? Ganz unerwartet rutschte er plötzlich näher zu Oksa, sodass sich ihre Schultern berührten. Er zog an einem Faden, der von ihrer abgewetzten Jeans hing, und wickelte ihn geistesabwesend um den Zeigefinger.
    »Wir müssen unsere Kräfte bündeln, wenn wir nicht sterben wollen«, sagte er leise. »All unsere Kräfte.«
    Wieder wich er ihr aus. Aber egal. Denn wie immer, wenn sie mit ihm allein war, spürte Oksa dieses überwältigende Glücksgefühl, und daran konnten auch seine ernsten Worte nichts ändern. Mit Tugdual war nie etwas einfach, alles war immer widersprüchlich, zweideutig, geheimnisvoll. Das vollkommene Gegenteil zu Gus. Sie spürte Wut und Trotz und Enttäuschung in sich aufwallen, bevor sie schließlich sacht ihren Kopf an Tugduals lehnte.
    Inzwischen war der Tag vollends angebrochen, und der alte Friedhof lag in einem violetten, fast schwärzlichen Schimmer, als ob der Himmel nach dem Tumult des Vortags von Blutergüssen übersät wäre. Tugdual legte den Arm um Oksas Schultern, und zusammen betrachteten sie, reglos wie Statuen, das beunruhigende Spektakel der Wolken. In der Ferne tauchte die Gestalt Abakums auf. Ihm folgten die Haselhühner Leomidos – zwei riesige Hühner mit fast drei Metern Flügelspannweite –, die sich watschelnd vorwärtsbewegten.
    »Die Stunde der Wahrheit naht«, murmelte Tugdual. »Wir werden wohl nie wieder hierher zurückkommen.«
    Eine tiefe Traurigkeit überkam Oksa. Alles, was sie hinter sich gelassen hatte, war noch nicht wirklich Vergangenheit für sie: Dafür war es noch zu früh, alles war noch zu gegenwärtig. Die Schule, ihre Freunde dort, die langen Abende mit Dragomira, die kostbaren Augenblicke zusammen mit ihren Eltern. Wie schwierig es doch war, sein »voriges« Leben aufzugeben. Sie hob den Kopf und blinzelte heftig, um die aufsteigenden Tränen zu vertreiben. In diesem Augenblick entdeckte sie Kukka an einem der Fenster im ersten Stock: Sie starrte mit einem so feindseligen Ausdruck auf den kleinen Friedhof herunter, dass Oksa das Gefühl hatte, die Eiseskälte darin förmlich spüren zu können. Sie zuckte zusammen. Tugdual folgte instinktiv ihrem Blick zu dem Spitzbogenfenster hinauf. Im selben Moment verschwand seine Cousine vom Fenster. Sofort nahm Tugdual den Arm von Oksas Schultern. Oksa war verletzt und verwirrt. Was sollte das heißen? Schämte sich Tugdual etwa? Sie dachte an die Worte des Plemplem. Warum war bloß alles so kompliziert? Tugdual sprang auf und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen.
    »Komm!«, rief er. »Fliegen wir ein bisschen spazieren.«
    Sie war nahe daran, abzulehnen und ihn einfach stehen zu lassen. Doch er legte bereits ihre Hände auf seine Schultern und fasste sie um die Taille. Zusammen schossen sie in den Himmel hinauf. Der Feenmann beobachtete sie, eine Hand über die Augen gelegt, mit einem wohlwollenden Lächeln auf den Lippen. Und er war bei Weitem nicht der einzige Zuschauer dieses magischen Ausflugs: Am anderen Ende des Gebäudes drückte Gus die Stirn gegen die kalte Scheibe und folgte dem Flug der beiden mit dem Blick. Hinter ihm saß Zoé auf ihrem Bett und sah, wie sich der Rücken des Jungen krümmte. Wie immer fühlte sie sich als ohnmächtige Zeugin des Kummers, der ihrem Freund das Herz schwer machte. Zwei Zimmer weiter schleuderte Kukka voller Zorn ihre blonde Mähne nach hinten. Und auch Pavel und Dragomira, die sich im Garten die Beine vertraten, hoben

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