Oksa Pollock. Der Treubrüchige
umhin festzustellen. »Kann ich dich etwas fragen?«
Der Plemplem nickte.
»Ist Tugdual … in mich verliebt?«
Das kleine Geschöpf blinzelte einmal mit seinen langen, feinen Wimpern.
»Der Enkel der Freunde der Huldvollen offenbart nur eine Oberfläche seines Charakters. Er scheint keine Emotion in Empfang zu nehmen, verspürt jedoch große Verstörungen und heftige Qualen. Ihr müsst die Kenntnis entgegennehmen, dass in seinen düsteren Augen die Macht genauso anziehend ist wie das Feuer.«
»Was willst du damit sagen?«
»Der Enkel der Freunde der Huldvollen begegnet der Widersprüchlichkeit: Die Macht praktiziert die Ausübung einer tiefen Faszination auf ihn. Die Junge Huldvolle bekleidet die Verkörperung dieser in den Augen vieler so begehrenswerten Macht. Die Folge lautet, dass die empfundene Faszination für die Macht die Umleitung auf die Junge Huldvolle erfahren kann.«
»Was bedeuten würde, dass Tugdual sich nur für mich interessiert, weil ich diese Macht verkörpere«, schloss Oksa mit rauer Stimme.
Der Plemplem runzelte seine breite Stirn.
»Die Natur ist manchmal mit Kompliziertheit gespickt, Junge Huldvolle, doch Ihr müsst jede Furcht aus Eurem Herzen vertreiben. Der Enkel der Freunde der Huldvollen beherbergt nicht dieselbe Logik wie andere Menschen. Der Anschein begeht die Täuschung und bringt den Irrglauben, denn die Wirklichkeit ist unerwartet: Die Treue und die Liebe des Enkels der Freunde der Huldvollen kennen Standhaftigkeit und Vollständigkeit. Sein Herz ist schwarz und verschlungen, aber es bewahrt den Zustand der Reinheit. Jedoch darf die Junge Huldvolle nicht die Vernachlässigung der anderen freundschaftlichen und familiären Beziehungen begehen. Und vor allem nicht die der Auslöschung der beiden Welten …«
»Die Lage ist ernst, nicht wahr?«
Der Plemplem nickte.
»Werden wir noch mal davonkommen?«
»Eure Dienerschaft kann Euch nur die Gabe einer einzigen Versicherung gewähren: Die Rückkehr nach Edefia kennt die zeitliche Nähe, und der Erfolg gründet seine Hoffnung auf dem Bündnis der Rette-sich-wer-kann. Das Bündnis ist unteilbar durch alle Rette-sich-wer-kann.«
Oksa räusperte sich nervös. Ihr Blick wanderte zum metallgrauen Himmel, über den schwarze Blitze zuckten, ähnlich denen, die ihr im Gemälde solche Angst gemacht hatten. Mit einem tiefen Seufzer trat sie ans Fenster. Sie blickte auf den kleinen, von einem schmiedeeisernen Zaun umschlossenen Friedhof hinunter. Tugdual saß dort, an denselben Grabstein gelehnt wie damals, als sie beide sich zum ersten Mal richtig unterhalten hatten. Ob er spürte, dass sie ihn vom Fenster aus beobachtete? Sie war sich nicht sicher. Er schien ganz in Gedanken versunken zu sein. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Kummer und Schmerz. Als ob die Maske gefallen wäre. Als ob nichts anderes mehr für ihn existierte als seine Verzweiflung. Dort, an diesen Grabstein gelehnt, schien er nichts mehr verbergen zu können, und diese Haltung, frei von jeder Künstlichkeit und jedem Versuch, sich zu schützen, berührte Oksa zutiefst. Sie musste plötzlich an den Song von The Smiths denken, den er so gern mochte:
I wear black on the outside
Because black is how I feel on the inside …
And if I seem a little strange
Well, that’s because I am …
But I know you would like me
If only you could see me
If only you could meet me …
I don’t have much in my life
But take it – it’s yours.
Vor einiger Zeit hatte Tugdual diese Zeilen lässig wie immer, fast schon fröhlich, vor sich hin gesungen. Dabei war ihr Sinn so düster und schwermütig. Und so treffend! Oksa machte mit unendlicher Vorsicht das Fenster auf und schwang ein Bein über den Sims. Der Plemplem konnte es kaum fassen.
»Meine Junge Huldvolle«, sagte er seufzend, »begeht nicht das Vergessen meiner Worte.«
»Versprochen!«, raunte ihm Oksa zu, bevor sie sich, mehrere Meter über dem Boden, hinausschwang.
Tugdual hob überrascht den Kopf: Oksa war neben seinen Füßen gelandet und sah ihn mit entschlossenem Blick an.
»Hallo, Kleine Huldvolle!«, begrüßte er sie.
»Hallo«, erwiderte Oksa und ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder.
»Gut geschlafen?«
»Wie ein Stein. Und du?«
»Ich habe einen Teil der Nacht hier gesessen.«
»Konntest du nicht schlafen?«
»Ich war noch nie ein großer Schläfer. Ein paar Stunden pro Woche reichen mir. Und zurzeit ist es noch weniger.«
»Und du bist nicht müde?«, rief Oksa überrascht und
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