Oksa Pollock. Der Treubrüchige
vermutete, dass Orthon nichts unversucht lassen würde, um die zu schwächen, die er hasste: Dragomira, Pavel, Abakum, sie selbst. Er würde sich nicht scheuen, sie zu provozieren und psychisch unter Druck zu setzen, und bestimmt hätte er damit auch Erfolg. Die Vorstellung, dem obersten Treubrüchigen womöglich nicht gewachsen zu sein, erfüllte Oksa mit großer Angst. Sie zweifelte an ihrer psychischen Stärke. Hoffentlich gefährdete sie nicht am Ende noch die Anstrengungen der anderen Rette-sich-wer-kann … Und auch an ihren Vater dachte Oksa mit Sorge. Ob er wohl in der Lage sein würde, seine Impulsivität in den Griff zu bekommen? Es war schwer zu sagen, weil man Pavel manchmal einfach nicht einschätzen konnte. Vor allem dann nicht, wenn jemand der Frau, die er liebte, Schaden zuzufügen drohte.
Je näher das Schiff seinem Ziel kam, umso mehr wurde Oksas Vorfreude, weil sie ihre Mutter bald wiedersehen würde, von einer wachsenden Angst verdrängt, die sie zermürbte. Wenn bloß alles gut ging … Und, vor allem, wenn bloß Marie durchhielt. Mit jedem Tag verrann die Zeit, die ihrer Mutter noch blieb. Um sie zu retten, brauchten sie die Tochalis – die Unschätzbare Blume –, die man nur auf dem Territorium des Unzugänglichen in Edefia fand. Ein höchst seltenes und kostbares Heilmittel, das einzige, was Marie helfen konnte. Oksa versuchte, an etwas anderes zu denken. Doch egal, was ihr in den Sinn kam: Alles bot Anlass zu Angst und Sorge. Und Gus war dabei eine besonders ergiebige Quelle. »Hochbegabt … ein echter Champion!«, seufzte Oksa verbittert. Nun, wenigstens sprachen sie wieder miteinander, das war schon mal ein Fortschritt. Gleich hinter Marie und Gus, auf dem dritten Platz des Siegertreppchens: Tugdual. Sobald Oksa ihn sah, gingen ihre Gefühle mit ihr durch. Einerseits hatte sie Angst, sich in diesem Taumel zu verlieren. Andererseits wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass er sie in die Arme schloss – dieses Gefühl, ins Leere zu stürzen und es zu genießen. Und dann gab es da noch Edefia, so nah und so fern zugleich, das Schicksal der Rette-sich-wer-kann, der drohende Untergang der beiden Welten … Noch so ein schwindelerregender Abgrund …
Eine kräftige Sturmböe erfasste das Schiff und riss Oksa aus ihren Gedanken. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz klopfte wie wild. Sie lauschte angespannt. Der Schiffsmotor brummte so laut wie zuvor, und das Schiff fand wieder zu seinem unregelmäßigen Stampfen zurück. Oksa wagte einen Blick aus dem Bullauge: Wieder brach ein Tag an, wieder mit einem tief hängenden Himmel und dicken, bedrohlichen Wolken. Das Meer war grau und aufgewühlt, Windstöße peitschten tosende Wellen auf und ließen das Boot schonungslos hin und her schaukeln. Sie setzte sich in ihrer Koje auf und drückte sich die Nase an der Scheibe platt. In der Ferne sah sie, wie aus einer dunkelgrauen Wolke eine richtige Wassersäule niederging, so dicht, dass es fast wie etwas Kompaktes aussah. Gott sei Dank befanden sie sich nicht darunter! Der Himmel changierte zwischen Schwarz und Grau, vereinzelt durchbrochen von violetten Wolken, die geradezu übernatürlich aussahen.
»Ziemlich eindrucksvoll, was?«
Zoé war ebenfalls aufgewacht. Ihre haselnussbraunen Augen waren auf Oksa gerichtet.
»Äh … ehrlich gesagt, finde ich es eher zum Fürchten. Hörst du den Wind?«
Zoé schenkte ihrer Freundin ihr typisches sanftes Lächeln, während sie sich das halblange Haar glatt strich, um es zusammenzubinden.
»Soll das heißen, dass du dich nach allem, was du schon überstanden hast, jetzt vor diesen Windböen fürchtest? Das wäre ja, als ob eine Löwin vor einer Maus Angst hat«, zog sie sie gutmütig auf.
»Von wegen Löwin«, erwiderte Oksa. »Im Moment komme ich mir eher selbst wie die Maus vor!«
»Aber vergiss nicht, dass die winzige Maus den mächtigen Elefanten besiegen kann!«, meldete sich Dragomira zu Wort und rekelte sich auf ihrem Lager.
»Oh Baba!«
Oksa sprang von ihrem Stockbett und kniete sich neben die Koje darunter, um ihre Großmutter zärtlich zu umarmen.
»Mein kleines Mädchen«, seufzte Dragomira und drückte sie an sich. »Meine kleine Maus.«
»He, seht mal!«, rief Zoé. »Da ist eine Insel!«
Oksas Herzschlag setzte einen Moment lang aus, und Dragomira wurde bleich. Auch Remineszens erhob sich und drückte ihrer Halbschwester bestärkend die Schulter.
»Wir können doch noch nicht da sein, oder?«, stammelte Oksa
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