Oksa Pollock. Der Treubrüchige
fast vollkommene Dunkelheit, die vor ihnen lag, und antwortete schließlich:
»Ja. In jeder Hinsicht …«
Nächtliche Grübeleien
T
odmüde stapfte Oksa den schmalen Gang zu ihrer Koje entlang. Weil das Boot ein wenig schaukelte, musste sie sich an den Metallwänden abstützen. Plötzlich tauchte Gus am anderen Ende des Gangs auf. Er blieb abrupt stehen und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er war leichenblass. Besorgt ging Oksa zu ihm.
»Dir scheint es nicht besonders gut zu gehen«, sagte sie ein wenig verlegen.
Gus wandte ihr den Kopf zu, doch sein glasiger Blick ließ Oksa vermuten, dass er sie nur verschwommen wahrnahm. Sein hübsches Gesicht war angespannt, geradezu verzerrt, als ob er unter einem starken Druck stünde.
»Du siehst wirklich mies aus, weißt du?«, sagte sie leise.
»Feinfühlig wie immer«, murmelte Gus und schnitt eine Grimasse. »Mir geht es auch mies, wenn du es genau wissen willst. Meine Beine fühlen sich an wie Wackelpudding, und ich hab das Gefühl, dass alles in mir irgendwie zusammenbricht. Und damit meine ich nicht nur meine Stimmung …«
»Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragte Oksa und biss sich in ihrer Nervosität einen Nagel ab.
»Außer, dass du dieses verflixte Boot anhältst, wohl kaum«, sagte er und warf den Kopf in den Nacken.
»Bist du seekrank? Abakum hat ein Mittel dagegen. Soll ich ihn fragen?«
»Warum denn?«, fragte Gus zurück.
Oksa sah ihn mit einer Mischung aus Ärger und Traurigkeit an.
»Ganz einfach: weil du mein Freund bist, weil es dir nicht gut geht und weil ich ein Mittel kenne, mit dem es dir vielleicht besser gehen würde.«
»Stimmt. Kurzum, das würdest du für jeden x-Beliebigen machen.«
Am liebsten hätte Oksa ihn an den Schultern gepackt und geschüttelt. Doch sie schaffte es, sich zu beherrschen. Nach der vorsichtigen Annäherung zwischen ihnen hatte sie schon geglaubt, alles wäre wieder einigermaßen in Ordnung. Doch da hatte sie sich offenbar getäuscht.
»Denk doch, was du willst«, sagte sie mit einem resignierten Seufzer. »Aber du bist jedenfalls nicht jeder x-Beliebige für mich. Wartest du hier? Ich bin gleich zurück.«
»Ich muss mich unbedingt hinlegen«, stöhnte Gus. »Ich bin fix und fertig.«
Er sah wirklich elend aus. Seine Augenlider waren halb geschlossen, er atmete schwer, und sein schweißbedecktes Gesicht hatte etwas Wächsernes. Er schlug den Rollkragen seines dicken blauen Pullis hoch und verschränkte unsicher die Arme.
»Ich bring dich zu deiner Koje«, sagte Oksa und fasste ihn am Oberarm.
Gus stieß sie heftig von sich weg.
»Gib dir bloß keine Mühe. Du hast bestimmt was Besseres zu tun«, sagte er. Dann sackte er auf dem Gang zusammen.
»Weißt du was? Du gehst mir allmählich richtig auf die Nerven!«, sagte Oksa verärgert. »Lass dir jetzt gefälligst helfen und halt mal den Mund.«
Sie half ihm auf die Beine und stützte ihn, wobei ihr auffiel, wie steif seine Bewegungen waren. Als ob sein ganzer Körper verkrampft wäre. Er stöhnte und konnte nicht mehr anders, als sich von ihr helfen zu lassen. Als sie vor seiner Koje angekommen waren, stammelte er:
»Oksa …«
Sie hob den Kopf. Ein Hoffnungsschimmer keimte in ihr auf.
»Was ist, Gus?«, fragte sie sanft.
Gus runzelte die Stirn und schien mühsam nach Worten zu suchen. Doch dann sagte er nur:
»Ach, nichts.«
»Du kannst einen vielleicht nerven«, murmelte sie enttäuscht.
Sie half ihrem Freund, sich in seine Koje zu legen. Sofort kauerte er sich ganz klein zusammen. Er stöhnte leise. Es ging Oksa durch und durch. Sie hasste es, ihn leiden zu sehen.
»Bleib schön brav hier. Ich bin gleich zurück.«
Ein paar Minuten später sprühte sie ihm das Feengold-Pflanzensaft-Gemisch aufs Gesicht. Und nachdem Gus in einen angenehmen Traum versunken war, zog sich Oksa in ihre eigene Koje zurück. Ruhelos wälzte sie sich auf dem schmalen Bett hin und her. Immer wieder riss sie das Brummen des Motors oder das Knarren des Schiffs aus dem Schlaf, ganz zu schweigen von ihren eigenen Gedanken, die sie wie Sturmböen überfielen. Die Zukunft war schon ungewiss genug, aber die Gegenwart war auch nicht gerade einladend. Egal, woran sie dachte, immer schwang eine unterschwellige Panik mit, die sich hartnäckig in ihrem Herzen eingenistet hatte. Oksas oberste Sorge galt ihrer Mutter. Sie hatte sehr wohl verstanden, dass Marie in der Konfrontation mit den Treubrüchigen schonungslos als Druckmittel verwendet werden sollte. Und sie
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