Oksa Pollock. Der Treubrüchige
geworfen und sah ihren Vater an, der ihr gegenübersaß. Das Energifix hatte die Ringe unter seinen Augen wegradiert, doch die Sorge war nicht aus seinem Blick gewichen.
Aus Verlegenheit schaute sie zu Tugdual hinüber. Der Junge hatte sich demonstrativ zurückgezogen, indem er sich seinen Kopfhörer aufgesetzt und seinen MP3-Player auf maximale Lautstärke gestellt hatte. Sein Gesicht wirkte verschlossen, undurchdringlich, und Oksa tat es weh, ihn so zu sehen. Es war nur eine Maske, das wusste sie sehr wohl. Sie brannte darauf, zu ihm zu gehen und sich an ihn zu schmiegen, und der Gedanke erschreckte sie. Sie dachte daran, wie verächtlich Kukka sie angesehen hatte. Und wenn Kukka nun recht hatte und sie, Oksa, wirklich nur ein dummes kleines Mädchen war? Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Oksa, dass das Bild, das sie von sich hatte, erschüttert war. Es war allerdings der völlig falsche Zeitpunkt für solche Gedanken, trotzdem ließen sie sich einfach nicht verscheuchen. Oksa fand sich zwar nicht ausgesprochen hübsch, dafür aber witzig und einigermaßen intelligent. Aber wozu? Wenn sie Kukka anschaute, kam ihr alles, was sie zu bieten hatte, auf einmal so fade wie abgestandenes Wasser vor. Was war denn auf einmal los mit ihr? Da war plötzlich eine Riesenfurcht, dass sie sich so, wie sie war, nicht mehr mögen könnte. Ihr wurde ganz heiß. Erneut suchte sie mit den Augen Tugdual, der sich jedoch in seine Einsamkeit eingemauert hatte. Oksa war vollkommen niedergeschlagen. Plötzlich, als hätte er ihre tiefe Verunsicherung gespürt, schaute Tugdual auf. Eine Falte bildete sich auf seiner Stirn, und einen Moment lang lag ein Ausdruck von Unruhe in seinen Augen. Doch dann zog er den schwarzen Schal fester um seinen Hals und kehrte wieder zu seiner unnahbaren Haltung zurück, während Oksa sich allein mit ihren Gefühlen herumschlagen musste, und das auch noch unter den hämischen Blicken Kukkas.
Zoé war es, der schließlich auffiel, dass die Bellangers fehlten. Als Oksa Gus’ Namen hörte, erschrak sie über sich selbst. Was für eine schlechte Freundin war sie doch! Sie biss sich auf die Lippen. Sie konnte nicht fassen, dass sie den Jungen vergessen hatte, der seit Jahren ihr bester Freund war. Gerade, als sie aufspringen wollte, um nach ihm zu sehen, betraten die Bellangers zusammen mit Bodkin und Feng Li den Raum. Oksa erschrak, als sie das furchtbar elende Gesicht ihres Freundes sah, und ärgerte sich noch mehr über sich selbst. Gus war ganz grün im Gesicht, sein Blick wirkte verstört. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sogar Tugdual schien über seinen Zustand zu erschrecken.
»Um Himmels willen, mein Junge, was ist denn los?«, rief Dragomira, sprang von ihrem Platz auf und eilte zu ihm.
»Er ist seekrank«, erklärte Pierre. »Oksa hat ihm Abakums Feengold-und-Pflanzensaft-Medizin gegeben.«
»Ich bin nicht mehr seekrank, Papa«, sagte Gus und griff sich an die Stirn.
Er sah Oksa an. Seine sonst so leuchtend blauen Augen erinnerten Oksa an einen schlammigen Sumpf – als hätte ein böswilliger Maler sie mit seinem Pinsel verschmiert.
»Das Mittel hat gut geholfen, Oksa, danke!«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich habe bloß diese furchtbaren Schmerzen …«
Er musste sich am Arm seiner Mutter festhalten, sonst wäre er umgefallen.
»Aber was hat er denn?«, schrie Oksa und blickte ihre Großmutter verzweifelt an.
Die Baba Pollock wandte sich beunruhigt zu Naftali und Brune um, von denen jedoch auch kein tröstendes Signal kam. Im Gegenteil, sie nickten nur vorsichtig, wie um eine düstere Diagnose zu bestätigen.
»Setz dich und iss ein bisschen, mein Junge«, schlug Dragomira vor.
»Ich kann nicht«, stöhnte Gus und krümmte sich vor Schmerzen.
»Ich bringe dich zurück zu deiner Koje«, sagte Pierre entschlossen.
Er stützte Gus und ging mit ihm aus dem Raum, gefolgt von Jeanne, Dragomira, Brune, Naftali und, in vorsichtigem Abstand dahinter, Oksa und Zoé. Alle drängten sich in die winzige Kabine, in der sich die Kojen der Bellangers befanden, und ließen die beiden Mädchen draußen stehen. Einen Augenblick später tauchten Abakum und Remineszens auf und gingen ebenfalls hinein. Die Tür schlossen sie sorgfältig hinter sich.
»Die wollen uns doch irgendwas verheimlichen, oder?«, fragte Oksa leise.
»Ja«, stimmte Zoé zu. »Und ich fürchte, es ist etwas Schlimmes.«
Oksa hatte das Gefühl, als ob der Boden unter ihr nachgab. Sie spürte, wie Zoé ihre Hand
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