Oksa Pollock. Der Treubrüchige
panisch.
»Ich glaube nicht«, sagte Remineszens. »Aber fragen wir doch mal unsere begabten Matrosen! Die werden ja wohl wissen, wo wir uns befinden.«
Frühstück mit Spannungen
I
n der Steuerkabine stand Abakum vor den Instrumenten. Der Kapiernix sah mit trägem Blick Dragomiras Getorix bei seinen Gymnastikübungen zu. Nicht weit von ihnen schlief Pavel in einer Hängematte. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. In der Mulde zwischen seiner Schulter und seinem Hals hatte es sich eine Sensibylle gemütlich gemacht. Kaum war Oksa eingetreten, schlug Pavel die Augen auf. Ein erschöpftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Guten Morgen«, rief Oksa mit gespielter Fröhlichkeit.
»Guten Morgen, die Damen!«, erwiderten die beiden Männer im Chor.
Remineszens trat zu Abakum, der kaum merklich erbebte, und warf ihm einen besorgten Blick zu.
»Ist das die Insel?«, fragte sie ihn und zeigte mit dem Finger auf den Streifen Land, der sich am Horizont abzeichnete.
Ihre Stimme zitterte. Alle hielten den Atem an. Abakum wandte den Blick nicht vom Meer.
»Nein«, sagte er schließlich. »Wir haben erst die halbe Strecke hinter uns. Was ihr da seht, ist die Isle of Man.«
Oksa wusste zwar, dass der Aufschub nicht von Dauer sein würde, doch sie war erst einmal erleichtert. Und sie war nicht die Einzige: Auch die Gesichter der anderen entspannten sich auf die Nachricht hin.
»Also, ich glaube, wir brauchen jetzt ein ordentliches Frühstück«, stellte Dragomira fest. »Ihr zwei habt doch sicher Hunger«, sagte sie zu Oksa und Zoé. »Und du auch, Pavel, oder?«
Es war ziemlich offensichtlich, dass die Baba Pollock Remineszens und Abakum die Gelegenheit geben wollte, allein zu sein. Zwar hatte bisher niemand das Thema offen angesprochen, doch seit sie Remineszens aus den Tiefen des Gemäldes zurückgebracht hatten, machte sich Oksa so ihre Gedanken darüber. Sie war fest davon überzeugt, dass Abakum die schöne Frau mit dem schweren Schicksal liebte. Oksa nahm an, dass sich der Feenmann aus Loyalität gegenüber der Familie der Huldvollen in ihren Jugendjahren in Edefia aus dem Rennen zurückgezogen hatte, nachdem Leomido seine Liebe für Remineszens offen eingestanden hatte. Doch trotz all der Jahre, die seither vergangen waren, war sein Gefühl für sie nicht erloschen: Abakum liebte Remineszens immer noch. Jetzt, wo Oksa selbst die ersten Regungen der Liebe verspürte, sprangen ihr gewisse Anzeichen förmlich ins Auge. Der intensive Blick, mit dem Abakum Remineszens ansah, seine besondere Aufmerksamkeit ihr gegenüber, das leise Zittern, wenn sie in seiner Nähe war. Was musste es ihn gekostet haben, stillzuhalten, seine Gefühle zu ersticken. Ob er noch Hoffnung gehabt hatte? Nein, bestimmt nicht. Er hatte sich stets zurückgenommen, selbst als Leomido für immer verschwunden war. Für einen Moment versuchte Oksa, sich vorzustellen, wie ihr Leben aussehen würde, wenn Tugdual ihre Gefühle nicht erwiderte. Wenn er eine andere in die Arme schloss. Sie würde daran zugrunde gehen, ganz sicher! Sie warf einen Blick auf Abakum, der leicht nach vorn gebeugt am Instrumentenbrett stand, während Remineszens ihm mit großer Zärtlichkeit die Hand auf den Arm legte. Der Feenmann legte seine freie Hand auf ihre und drückte sie sacht. Dragomira schob Pavel, Zoé und Oksa aus der Kabine.
»Baba?«, fragte Oksa ihre Großmutter flüsternd. Sie war auf der Suche nach weiteren Hinweisen.
»Die verlorene Zeit kann man nicht wieder zurückholen. Aber man kann die Süße der Gegenwart auskosten«, sagte ihre Großmutter geheimnisvoll.
Oksa blickte sie fragend an. Zu gern hätte sie mehr erfahren, doch Dragomira wandte sich bereits zum Gehen. Dieses Thema sollte also wohl eine private Angelegenheit der beiden bleiben.
»Ich hätte jetzt absolut nichts gegen einen schönen heißen Tee einzuwenden«, flötete Dragomira.
»Was mich angeht: Ich bräuchte mindestens zwei Liter, um mich von dieser Nacht zu erholen«, erklärte Pavel und verzog das Gesicht. »Ich werde wohl einfach älter, es lässt sich nicht mehr leugnen.«
»Ach, du armer alter Tattergreis«, zog ihn Oksa auf. »Schaffst du es noch, oder soll ich dich stützen, mein alter Herr?«
»Komm her zu mir, du undankbares Luder«, erwiderte Pavel, auf ihre Spöttelei eingehend. »Und du auch, Zoé, komm zu deinem Onkel Tattergreis. In meinem Zustand kann ich gut und gerne zwei kräftige Krückstöcke gebrauchen.«
Er zauste ihnen liebevoll die Haare,
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