Oksa Pollock. Der Treubrüchige
ersticken drohte, brach sich endlich Bahn.
»Töte Mortimer nicht«, bettelte sie schluchzend. »Es hat schon so viele Tote gegeben.«
»Ich flehe Sie an!«, meldete sich nun eine Frau unter Tränen. Sie löste sich aus den hinteren Reihen der Treubrüchigen, in deren Schutz sie sich bisher gehalten hatte. »Bitte verschont meinen Jungen. Ihn zu töten, würde vielleicht die Toten rächen. Aber nichts wird sie je wieder zurückbringen.«
Das war zu viel für Zoé, die nun zum ersten Mal, seit sie das Haus der McGraws verlassen hatte, ihre Großtante Barbara wiedersah. Zum ersten Mal seit jenem düsteren Tag im April, als ihr Leben erneut aus den Angeln gehoben worden war … Das Mädchen stieß ein Stöhnen aus, das Remineszens sichtlich erschütterte, und brach dann weinend auf dem Boden zusammen.
»Hör auf sie!«, murmelte Abakum und blickte Remineszens flehentlich an.
Doch das Leid wog schwerer als die Vernunft. Mit einem Schluchzer, in dem ebenso viel Zorn wie abgrundtiefer Schmerz lag, hob Remineszens den Arm und führte ihn mit einer zerstörerischen Heftigkeit, die nichts und niemand aufhalten konnte, nach unten.
Ein schwieriges Zweckbündnis
E
in leuchtend goldener Blitz durchzuckte plötzlich den Raum. Geblendet von dem grellen Licht, rissen alle reflexartig die Arme vors Gesicht.
»Die Alterslosen!«, rief Oksa erleichtert.
Orthons Gesicht verzerrte sich. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf den goldenen Lichthof, der sich zwischen den Rette-sich-wer-kann und den Treubrüchigen aufbaute. Oksa wunderte sich über seine Bestürzung. Doch dann fiel ihr ein, dass er die Alterslosen vermutlich noch nie gesehen hatte. Eine Silhouette zeichnete sich im Lichthof ab. Sie bewegte sich mit hypnotischer Geschmeidigkeit, ihre langen Haare wogten wie Algen in den Tiefen des Meeres. Eine Handbreit vom Boden entfernt verharrte sie und betrachtete lange die beiden Gruppen. Alle waren wie gelähmt von der plötzlichen Erscheinung. Als die Silhouette auf Oksa zukam, wich Orthon einen Schritt zurück.
»Meine Verehrung, Junge Huldvolle!«
Beim Klang der betörenden kristallklaren Stimme verfielen die Treubrüchigen in respektvolles Schweigen. Sie sahen andächtig zur Alterslosen, die Oksa so ehrfürchtig begrüßte, wie keiner von ihnen es je getan hatte.
»Die Stunde eures Zusammenschlusses hat geschlagen«, verkündete sie nun. »Edefia, das Herz der Welt, stirbt.«
»Und was ist mit Ocious?«, fragte Agafon mutig. Orthon ließ sich keine Gefühlsregung anmerken.
»Ocious hat schon genug Unheil angerichtet«, sagte die Alterslose eisig. »Malorane und er sind zu gleichen Teilen für das Große Chaos verantwortlich, das beide Welten an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Wenn ihr nicht handelt, wird bald alles zu Ende sein.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Oksa.
»Findet die Kraft, euch zu einen.«
Die Versammelten blickten sich voller Misstrauen an.
»Nichts kann uns je wieder zusammenführen«, wandte Pavel vehement ein.
»Das Überleben beider Welten hängt von eurem Bündnis ab.«
Einen Moment lang herrschte betroffenes Schweigen, dann fingen alle an durcheinanderzureden.
»Ein Bündnis ist völlig unmöglich«, riefen einige Treubrüchige, aber auch manche der Rette-sich-wer-kann.
»Ausgeschlossen!«
»Das kommt gar nicht infrage!«
Da übertönte Mercedica das allgemeine Stimmengewirr. »So ernst, wie man es uns weismachen will, kann die Lage gar nicht sein!«
Ein lautes Knistern unterbrach die aufgeregte Diskussion: Der Lichthof um die Alterslose verdunkelte sich, und Aufnahmen der Katastrophen überall auf der Welt erschienen. Als würden Dutzende Fernseher laufen, redeten Journalisten in ihrer jeweiligen Sprache durcheinander. Alle spitzten die Ohren und versuchten die Meldungen zu verstehen, obwohl die Bilder an sich genügten, um das Ausmaß des Schreckens im Da-Draußen zu erkennen. Ein Vulkan nach dem anderen brach aus, Erdbeben erschütterten die ganze Welt, Flutwellen überschwemmten sämtliche Küstenregionen, schwere Regenfälle setzten ganze Landstriche unter Wasser und Feuersbrünste zerstörten Städte und Wälder … Überall waren Menschen auf der Flucht und versuchten verzweifelt, dem allgegenwärtigen Chaos zu entkommen. Doch ihre Bemühungen waren umsonst.
»Der Todeskampf beider Welten nähert sich viel schneller als erwartet«, verkündete die Alterslose. »Das Gleichgewicht des Herzens der Welt, aufrechterhalten von der Kammer des Umhangs, ist seit der Enthüllung
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