Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Neffe, deine Tochter opfert sich eben gerne …«
Oksa erstarrte. Orthon hatte den Fuß auf ihre schmerzende Schulter gesetzt, die Stelle ihres Körpers, die ihr am meisten wehtat, und trat immer fester zu, während er Pavel herausfordernd ansah. Plötzlich packte er ihn an der Kehle und verpasste Oksa einen Tritt mit der Fußspitze, sodass sie der Länge nach hinschlug und er ihr den Fuß auf den Brustkasten stellen konnte. Oksa bekam kaum noch Luft, so bleischwer lastete Orthons Fuß auf ihr. Sie riss die Augen auf und sah, wie der Erzschurke die Angriffe Tugduals und Dragomiras abwehrte und immer noch Pavel an der Kehle gepackt hielt. »Er ist unbesiegbar«, schoss es Oksa durch den Kopf. »Wir werden alle sterben!« Sie versuchte, das Andere Ich in Aktion zu versetzen, das sie tief in ihrem Inneren spürte. Worauf wartete es denn noch? Es sollte gefälligst aus Orthon Kleinholz machen! Wie funktionierte es bloß? Verdammt, ihr gelang aber auch gar nichts …
»ORTHON!«, schallte plötzlich die Stimme von Remineszens durch den Raum. »DAS REICHT!«
Alle fuhren zu ihr herum. Sie hatte drohend ihr Granuk-Spuck erhoben und schwang es wie eine Peitsche durch die Luft: Ein feiner Faden Arboreszens kam daraus hervor und verband sich mit Mortimers gefesseltem, am Boden liegenden Körper. Mortimer wurde hochgehoben und wild durch die Luft geschleudert, ohne sich dagegen wehren zu können. Er schlug gegen die Decke, gegen die Wände, knallte wieder auf den Boden und schrie vor Schmerzen und Angst.
»Lass sie los!«, befahl Remineszens in eiskaltem Ton.
Orthon rührte sich nicht.
»Bist du dir ganz sicher?«, fragte Remineszens und blickte ihm herausfordernd in die Augen. »Du, der du den Blutsbanden so viel Bedeutung beimisst? Du wärst bereit, dein eigenes Fleisch und Blut zu opfern?«
Sie gab ihrem Granuk-Spuck erneut einen scharfen Ruck, und Mortimer brüllte noch lauter. Orthon wurde blass, während Gregor vor ohnmächtiger Wut die Fäuste ballte. Zoé, die sich im Schutz ihrer Freunde gehalten hatte, weinte leise. Weder Remineszens noch Orthon schienen bereit nachzugeben. Mortimers Schreie wurden schwächer, der Junge war kurz davor, ohnmächtig zu werden.
»So weit würdest du nicht gehen«, murmelte Orthon. Seine Stimme bebte vor mühsam unterdrücktem Zorn.
»Bist du dir da so sicher?«, entgegnete Remineszens und riss ihr Granuk-Spuck so heftig nach unten, dass Mortimer wie ein Ball auf den Boden knallte und wieder hochsprang. »Und wenn ich es nun wie du machen würde, Bruder? Wenn ich nicht die geringsten Skrupel hätte und deinen Sohn töten würde, so, wie du meinen getötet hast?«
»Hör auf«, sagte Orthon kreidebleich.
Er stieß Pavel mit solcher Heftigkeit von sich weg, dass dieser über den Boden schlitterte. Dann schubste er mit der Fußspitze auch Oksa weg, die trotz ihrer Schmerzen sofort wieder auf die Beine kam. Doch der Kampf der beiden Clans war vorüber. Dies war der Augenblick der Abrechnung zwischen Remineszens und Orthon. Sie fixierten einander, als ob sie allein auf der Welt wären.
»Dein Sohn und seine Frau sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, das weißt du sehr wohl«, stellte Orthon klar.
»Einem Flugzeugabsturz, den dein teuflisches Hirn ausgeheckt hat, ja! Fang nicht dieses feige Spielchen an, ich bitte dich. Du hast mein Leben zerstört, indem du meinen Sohn getötet hast, und auch wenn ich weiß, dass du nicht so leiden wirst, wie ich gelitten habe, werde ich nun deinen töten. Hörst du? ICH WERDE MORTIMER TÖTEN!«
Ein Schauder durchlief alle im Raum, egal, auf wessen Seite sie standen. Remineszens wirkte so entschlossen, so kaltblütig. In diesem Moment gehorchte sie nur ihrem Rachedurst und nicht mehr den Regeln, denen sich die Rette-sich-wer-kann unterworfen hatten. Die Treubrüchigen sahen in ihr die würdige Zwillingsschwester ihres Anführers, und keiner zweifelte daran, dass sie fähig wäre, die Grenzen der Macht und der Grausamkeit noch weiter zu verschieben. Remineszens hob erneut den Arm, um den womöglich tödlichen Schlag gegen Mortimer zu führen. Da stieß Zoé einen verzweifelten Schrei aus.
»TÖTE IHN NICHT! Großmutter, bitte …«
Remineszens zögerte. Oksa blickte gebannt zu Zoé. Über mehrere Monate hinweg war Mortimer wie ein Bruder für sie gewesen, und die aufrichtige Zuneigung, die er ihr entgegengebracht hatte, würde das junge Mädchen ihm nie vergessen. Zoé stand händeringend da, und der ganze Kummer, an dem sie zu
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