Oksa Pollock. Der Treubrüchige
auch nur eines Blickes zu würdigen, eilte sie ans Bett von Gus, der erneut in Ohnmacht gefallen war. Zärtlich drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn und strich ihm über die Wange. Dann krempelte sie den Ärmel hoch, ballte die Faust, und ihre bläulichen Adern traten deutlich hervor. Sie holte einen Dolch aus der Innentasche ihrer Jacke und wollte sich schon die Haut aufritzen, als Orthon dazwischenfuhr.
»Na, na, verehrte Schwester! Lass dein mittelalterliches Arsenal stecken, wir leben doch im einundzwanzigsten Jahrhundert!«
Remineszens blickte auf und sah, dass ihr verhasster Bruder sich mit einem Ständer näherte, an dem alles Nötige für eine Bluttransfusion hing.
»Rühr mich nicht an«, drohte sie ihm leise.
Orthon blieb stocksteif stehen.
»Du bist nicht gerade hilfsbereit«, zischte er sie an. Dann rief er in Richtung Gang: »Annikki! Jemand soll Annikki holen!«
Die blonde junge Frau traf einen Augenblick später ein. Äußerst respektvoll forderte sie Remineszens auf, sich auf eine Bank zu legen. Sie stach ihr eine Nadel in den Arm, die zu einem kleinen Plastikbeutel führte. Der Beutel füllte sich rasch mit Blut, und Annikki konnte zur Bluttransfusion selbst übergehen. Und im totenstillen Labor bekam Gus das Blut der alten Dame, Nachfahrin des legendären Temistokeles, huldvoller Abstammung dank ihrer Mutter, Mauerwandlerin durch ihren Vater – eine gleichermaßen düstere wie strahlende Kombination. In ihrem Blut waren die mächtigsten und die gefährlichsten Eigenschaften, die es in Edefia gab, vereint.
Vom Regen in die Traufe
O
ksa blieb einige Stunden neben dem leichenblassen Gus sitzen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Dann übermannte sie der Schlaf, und sie träumte wirres Zeug, das sie nicht gerade hoffnungsfroh stimmte. Der letzte und scheußlichste Traum von allen weckte sie endgültig. Benommen schüttelte sie den Kopf, um die Bilder zu vertreiben. In ihrem Traum war Gus in einen blutrünstigen Raben verwandelt worden, der ihr erst mit seinen spitzen Krallen das Gesicht zerkratzt hatte, ehe er sich flügelschlagend an einem seltsam zwielichtigen Horizont entfernte. Sie fühlte sich wie gerädert, seufzte matt und merkte dann, dass sie völlig ausgehungert war. Ihr Magen knurrte, und sie schämte sich. Wie konnte sie an so etwas Banales wie Essen denken, wo es Gus doch so schlecht ging?
Sie sah sich um: Sie befand sich in einer kleinen, abgetrennten Nische eines Zimmers, zusammen mit Gus, Tugdual und Zoé, die alle drei schliefen. Gleich nebenan, in dem großen Labor, ruhten sich die Erwachsenen ebenfalls aus. Der kleine Plemplem hatte das Gesicht an Gus’ Hals geschmiegt und schnarchte. Was für ein liebes Kerlchen, dachte Oksa und streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln. Dann schweifte ihr Blick zu Tugdual. Er lag mit übereinandergeschlagenen Beinen der Länge nach auf dem Rücken. Sein Gesichtsausdruck, den Oksa so nicht von ihm kannte, verriet verborgenes Leid. Sie beobachtete ihn eine Weile und schämte sich, dass sie diese Gelegenheit nutzte, konnte jedoch nicht widerstehen.
Da stöhnte Gus leise und verscheuchte mit der Hand ein imaginäres Insekt. Oksa setzte sich auf und ließ sich dann wieder in den Sessel sinken. Falscher Alarm … Die Rettung nahte offenbar doch – seine Züge entspannten sich wieder, und seine Atmung beruhigte sich. Doch wer wusste schon, wie sich diese außergewöhnliche Bluttransfusion auswirken würde? Oksas Blick wanderte zwischen dem mit dunkelrotem Blut gefüllten Tropf und ihrem leblosen Freund hin und her. Ihr Freund, der einen festen Platz in ihrem Herzen hatte. Die große Pendeluhr im Salon schlug, Unheil verkündend hallte sie im ganzen Haus wider. Sechs Uhr. Bald würde der Tag anbrechen. Und am Ende dieses neuen Tages wäre Gus nicht mehr der Alte. Bestimmt wäre er ein paar Zentimeter gewachsen, in die Länge und in die Breite. Sein Gesicht würde markanter sein, sein Kiefer ausgeprägter, sein Blick reifer. Aber würde er auch das Selbstbewusstsein eines Sechzehn- oder gar Siebzehnjährigen haben? Wie würde es ihm mit seinem neuen Äußeren ergehen? Würde er die Veränderung verkraften? Welchen Einfluss hätte sie auf ihre Freundschaft? WÜRDE SIE IHN IMMER NOCH SO GERNHABEN WIE ZUVOR?
In diesem Moment flüsterte Zoé, als könne sie Oksas Gedanken lesen:
»Hauptsache, er überlebt.«
Oksa zuckte zusammen. Es war ihr peinlich, dass Zoé sie beobachtet hatte. Natürlich war es das Wichtigste, dass Gus überlebte!
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