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Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Titel: Oksa Pollock. Der Treubrüchige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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zwischen Gus’ bläuliche Lippen.
    »Und jetzt?«, fragte Dragomira.
    Orthon deutete mit einer Hand auf den Ständer, an dem Annikki hektisch hantierte, und mit der anderen auf Oksa, die sich in den Armen ihres Vaters wand. Da begriffen alle entsetzt, dass auch Oksa eine Bluttransfusion bekommen müsste.
    »Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte Pavel kraftlos.
    Dragomira trat zu ihm und schüttelte schweren Herzens den Kopf. Die Stille war so drückend, dass sie fast greifbar schien. Doch als Orthon seinen Ärmel hochkrempelte, stürzte sich Remineszens mit einem Schrei vor ihn.
    »Wag das ja nicht, Orthon! Oksa wird nicht durch dein Blut zur Mauerwandlerin werden!«
    Orthon hielt mitten in der Bewegung inne. Er kniff die Augen zusammen wie ein Raubtier, das sich auf seine Beute stürzt.
    »Du hast schon viel Blut gespendet!«, sagte er. »Die erste Transfusion hat dich ziemlich geschwächt, eine weitere könnte dir zum Verhängnis werden.«
    Die Rette-sich-wer-kann sahen besorgt zu Remineszens. Die alte Dame wirkte erschöpft, und ihr Gesicht war ganz grau. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und hielt sich nicht mehr gerade wie sonst. Doch sie riss sich mit aller Macht zusammen und sagte entschlossen:
    »Lieber sterbe ich, als dass Oksa das Blut dieses Ungeheuers bekommt!«
    Zoé stöhnte leise. Remineszens’ Worte kränkten sie sehr. Sie selbst spielte anscheinend überhaupt keine Rolle …
    »Dann soll meine verehrte Schwester eben ihren Willen bekommen!«, sagte Orthon steif. »Bitte, Annikki!«
    Diese baute konzentriert den Ständer für die Transfusion auf.
    »In wenigen Stunden wird das Gegengift seine Wirkung entfalten«, verkündete Orthon. »Dann sind Oksa und euer Schützling vorübergehend außer Gefahr. Sie werden nur ein wenig … verändert sein …«
    Bei dieser letzten Bemerkung lachte er nervös.
    »Eine schmerzhafte Veränderung?«, fragte Pavel hasserfüllt.
    »Ja und nein. Das Gegengift hebt die Wirkung des Chiroptergifts auf, indem es einen Schutzwall gegen die Wellen und andere Formen von Infraschall errichtet. Andererseits kann das beschleunigte Wachstum körperliche Schmerzen mit sich bringen sowie Nachteile emotionaler Natur.«
    »Was für Nachteile?«, stieß Pavel hervor.
    Orthon warf ihm einen bösartigen Blick zu.
    »Man wird nicht folgenlos um mehrere Jahre auf einmal älter.«
    »Bitte!«, sagte Pavel flehentlich. »Wir können nicht länger warten.«
    Alle drehten sich zu ihm. In seinen Armen lag Oksa, die in eine beunruhigende Lethargie verfallen war.

Die Beschleunigung
    O
ksas erste Empfindung, als sie aus den Abgründen der Ohnmacht auftauchte, war ein großes Wohlbehagen. Sie erinnerte sich genau an ihre letzten Momente bei klarem Bewusstsein, an die unerträglichen Schmerzen, die jeden Willen zerstörten, sogar den zu überleben. War sie jetzt gestorben? Hatte Gus sie mit seinem Biss getötet? Doch sie spürte, wie sie zusammengekauert dalag. Ihr Körper war leicht, fast schwerelos. Ihre Brust hob und senkte sich im Takt ihrer Atmung, sie merkte sogar, dass ihr Magen knurrte. Ich lebe! , dachte sie überglücklich. Aber wo war sie? Die letzten Bilder, die sie vor ihrem inneren Auge sah, waren die von Annikki, die eine Nadel in Remineszens’ dünnen Arm stach, und der Blick ihres vor Wut rasenden, unglücklichen Vaters. Die Schmerzen waren verschwunden, aber die Erinnerung daran stand ihr noch lebhaft und bedrohlich vor Augen. Vermutlich sollte sie Angst haben, doch sie fühlte sich rundum wohl, zuversichtlich und gelassen.
    Also schlug sie furchtlos die Augen auf. Sie war von einem feuchtwarmen, irisierenden Dunst umgeben, der sie jedoch nicht daran hinderte, ganz in ihrer Nähe die Begrenzung ihres Unterschlupfs zu erkennen. Sie streckte die Hand danach aus, und ihre Vermutung bestätigte sich: Ihre Finger strichen tatsächlich über die Innenseite der Nascentia, der Trostkugel. Die zarte, geäderte Membran aus einer Plazenta von Zwillingsplemplems pulsierte im Takt eines ruhig schlagenden Herzens und verlieh Oksa Kraft und Selbstvertrauen, genau wie in ihrem ersten Schuljahr an der St.-Proximus-Schule nach Orthons Angriff im Chemiesaal. Wenn sie genau lauschte, konnte sie vertraute Geräusche hören, die Stimmen der Rette-sich-wer-kann … und Orthons Stimme. Sie war zwar hellwach, aber noch nicht bereit, aus der Nascentia herauszukommen. Zumal sie in ihrem Rücken noch eine andere Atmung, einen anderen Herzschlag spürte. Sie versuchte sich umzudrehen. Die

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