Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Mama«, sagte Oksa leise und schmiegte sich wieder an sie.
»Jetzt ist alles gut«, flüsterte Marie ihr ins Ohr und strich Oksa übers Haar. »Du bist da und du lebst, das ist das Einzige, was zählt.«
»Wie findest du mich, Mama?«
Marie legte ihr die Hände auf die Schultern und hielt sie auf Armeslänge von sich, um sie besser betrachten zu können. Jetzt traten auch ihr Tränen in die Augen.
»Du bist meine Tochter und wirst es immer bleiben, alles andere ist unwichtig.«
Da spürte Oksa plötzlich die Hand ihres Vaters an ihrer Wange. Pavel stand da, völlig entgeistert angesichts des jungen Mädchens, das vor ihm stand. Es fiel ihm schwer, in ihr diejenige zu erkennen, die für ihn immer noch seine kleine Oksa war. Seine Tochter warf sich in seine Arme und ließ sich gerührt von ihm drücken. Sie fühlte, dass sie sich körperlich weiterentwickelt hatte, wollte die Konfrontation mit ihrem veränderten Äußeren jedoch möglichst lange hinausschieben. Über die Schulter ihres Vaters hinweg erblickte sie Dragomira und Remineszens, die sie beide wie gebannt beobachteten. Die Baba Pollock weinte. Orthon und Mercedica hielten sich mit selbstzufriedener, überheblicher Miene im Hintergrund. Brune und Naftali versuchten, sich gelassen zu geben, doch ihre feuchten Augen verrieten ihre Rührung. Neben ihnen standen Zoé und Tugdual und konnten den Blick nicht von dem merkwürdigen Duo lassen, das aus der Nascentia gestiegen war. Zoé war blass und hatte die Augen vor Staunen aufgerissen. Tugdual runzelte die Stirn und wirkte eher neugierig als bestürzt. Scheu betrachtete er Oksa von oben bis unten, was ihr schrecklich unangenehm war. Es fiel ihr schwer, frei zu atmen, ihre Kleidung engte sie ein, sie hatte überhaupt keine Vorstellung, wie sie wohl aussehen mochte, und alle sahen sie unverwandt an.
»Du siehst phantastisch aus«, sagte Pavel schließlich.
»Das sagst du nur, weil du mein Vater bist.«
Seufzend verdrehte Pavel die Augen, nahm sie bei der Hand und zog sie hinter sich her ans andere Ende des Raumes, wo sich ein großer Spiegel befand. Im Vorbeigehen warf Oksa einen Blick auf Gus. Er war so groß! Und sah so gut aus!
»Ja, ich weiß, fast wie der unglaubliche Hulk«, sagte ihr Freund und deutete auf sein zerrissenes Hemd und die Hochwasserhose.
Oksa konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Gus mochte gut fünfzehn Zentimeter größer geworden sein, aber seinem Sinn für Humor tat das zum Glück keinen Abbruch.
»Sollen wir uns gemeinsam der Spiegelprobe stellen?«, fragte er, nun wieder ernst.
Oksa nickte nur stumm, und gemeinsam traten sie vor den riesigen Spiegel.
Streithähne
D
ragomiras Wackelkrakeel flog brummend wie eine Hummel um Gus und Oksa herum, die wie erstarrt in den Spiegel blickten. Schließlich verkündete es mit heller Stimme:
»Am heutigen Tag ist die Junge Huldvolle sechzehn Jahre alt, einen Meter zweiundsiebzig groß und wiegt sechsundfünfzig Kilo. Ihr Taillenumfang beträgt …«
»Schon gut!«, unterbrach Oksa das Geschöpf, ehe es allzu intime Details herausposaunte. »Und jetzt zu Gus.«
Dieser stöhnte nur verlegen.
»Zu Befehl, Junge Huldvolle!«, entgegnete das kleine Geschöpf und richtete sich auf. »Der Freund der Jungen Huldvollen ist nun ebenfalls sechzehn Jahre alt. Er misst einen Meter neunundsiebzig und wiegt zweiundsechzig Kilo. Soll ich fortfahren?«
»Nein danke, liebes Krakeel, das genügt«, antwortete Oksa.
Fassungslos machte sie einen Schritt nach vorn und berührte vorsichtig ihr Spiegelbild. Ein vertrautes und zugleich fremdes Bild. Sie war es … und gleichzeitig war es jemand anders. Eine wohlgeformtere, vollere Figur. Ein tieferer, anderer Blick. Mit einer Hand strich sie ihr braunes, jetzt schulterlanges Haar zurück. Sie hatte sich – früher – so manches Mal vorgestellt, wie sie wohl in ein paar Jahren aussehen würde. Doch nie hatte sie das Bild vor Augen gehabt, das sie in diesem Moment mit wachsender Begeisterung im Spiegel betrachtete. Ihr Blick begegnete dem von Marie, und sie lächelte ihr zu.
»Du hast ja vorher auch nicht übel ausgesehen«, hörte sie da Tugduals Stimme hinter sich sagen, »aber im Vergleich zu jetzt …«
Sie wagte nicht, sich umzudrehen, sondern warf ihm nur im Spiegel einen Blick zu.
Tugdual legte ihr die Hände auf die Schultern. »Jetzt sind wir fast gleich groß«, bemerkte er.
Er stand so dicht hinter ihr, dass sie seinen Atem an ihrem Hals spürte. Doch er ließ es dabei bewenden, als
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