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Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Titel: Oksa Pollock. Der Treubrüchige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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wollte er sie nicht noch mehr erschrecken. Nur sein intensiver Blick fixierte sie im Spiegel. Die Berührung seiner Handflächen auf ihren Schultern erzeugte eine merkwürdige Wärme in ihrem Herzen. Instinktiv sah sie zu Gus, der Tugdual wutschäumend beobachtete.
    »So groß bist du gar nicht«, sagte ihr Freund dann spöttisch.
    »Stimmt, so groß bin ich gar nicht«, erwiderte Tugdual und trat unmerklich näher an Oksa heran. »Aber ob die paar Zentimeter wirklich eine Rolle spielen?«
    Gus warf ihm einen bösen Blick zu und brummte etwas vor sich hin. Oksa hingegen wurde mit einem Mal die veränderte Situation bewusst: Innerhalb weniger Stunden hatte Gus Tugdual auf einigen Gebieten eingeholt. Körperlich waren sie nun auf Augenhöhe. Ob sie es wollten oder nicht, beide hatten, jeder auf seine Weise, dieselben Vorzüge und dieselben Fehler: Ihr Charme war umwerfend, sie waren launisch, intelligent und hatten beide eine düstere Seite. Und vor allem brachten sie beide ihr Herz in Aufruhr.
    »Es geht zu schnell …«, flüsterte sie.
    In diesem Augenblick spürte sie, wie sie zwischen zwei wider­sprüchlichen Bedürfnissen hin und her gerissen wurde: sich Tugdual mit Leib und Seele hinzugeben und ihren Kopf an Gus’ Schulter zu lehnen und alles um sich herum zu vergessen. Wie kam sie nur auf solche Gedanken? Was war mit ihr passiert?
    Tugdual, der ihre Verwirrung spürte, gab ihr einen federleichten Kuss auf den Nacken. Oksa spürte, wie ihr Inneres Feuer fing. Alle Gefühle, die sie »vorher« schon empfunden hatte und die ihr so mächtig vorgekommen waren, hatten sich nun vervielfacht.
    »Du bist sagenhaft, Kleine Huldvolle«, flüsterte Tugdual ihr ins Ohr.
    Der Schauer, der Oksa durchfuhr, entging keinem der beiden Jungen. Tugdual hielt sie fest und zog sie mit sich. Oksa drehte sich zu Gus um, sie konnte nicht anders.
    »Überlege dir gut, was du tust«, sagte dieser mit gequälter Miene.
    Ein Dolch bohrte sich in Oksas Herz und zerteilte es in zwei exakt gleich große Hälften.
    »Und zettle jetzt bloß kein Gewitter an!«, zischte Gus ihr noch hinterher und drehte damit den Dolch in der Wunde um. »Steh zu deinen Taten! Du bist kein kleines Kind mehr, Oksa!«

Eine überraschende Eröffnung
    O
ksa warf einen Blick aus dem Fenster: Über der Heidelandschaft brach ein trister Tag an. Sie waren im ersten Stock des Hauses der Treubrüchigen, von wo man einen weiten Blick über die Landschaft hatte. Der Wind hatte sich gelegt, doch am Himmel zeigten sich schwarze Stellen, die wie riesige klaffende Wunden aussahen. Die Wellen brachen sich mit Gewalt an den Felsen, das graue Wasser spritzte hoch auf. In der Ferne spazierten die Haselhühner umher, ihre gefiederten Köpfe waren von der Gischt zerzaust. Alles wirkte bleiern, die Umgebung genauso wie die allgemeine Stimmung. Einzig Orthons Laune fiel aus dem Rahmen, er war sichtlich mit sich zufrieden.
    »Ich möchte euch gern zu einem ordentlichen Frühstück einladen«, verkündete er plötzlich.
    Dragomira sah ihn misstrauisch an.
    »Er hat recht«, sagte Abakum leise. »Nach dieser anstrengenden Nacht müssen wir uns stärken.«
    Oksa hätte es niemals zugegeben, doch sie war halb tot vor Hunger. Ihr Magen fühlte sich an wie ein einziger großer Knoten. Als wäre sie nicht nur schlagartig zwei Jahre älter geworden, sondern als hätte sie tatsächlich auch zwei Jahre lang nichts gegessen!
    »Ihr seid meine Gäste!«, fügte Orthon großspurig hinzu.
    »Hör auf mit dem Theater!«, fuhr Remineszens ihn an.
    »Es reicht in der Tat«, sagte Dragomira bitter.
    Orthon lächelte bloß und öffnete die Tür. Zusammen mit Mercedica trat er auf den Flur hinaus, um sie ins Erdgeschoss zu führen. Weil ihre alten Sachen so eng geworden waren, hatten Oksa und Gus sich Kleidung von ihren Gefährten geliehen. Oksa trug eine Jeans und Stiefeletten von einer Enkelin Leomidos, und Tugdual hatte darauf bestanden, ihr sein schwarzes Kapuzenshirt zu geben. Gus hingegen hatte sich strikt geweigert, Kleidung von seinem Rivalen anzunehmen, sich aber dankbar einen dicken graugrünen Wollpullover und eine passende graue Stoffhose von Cockerells Sohn übergezogen. Sie hatten sich beide noch nicht an ihre neue Körpergröße gewöhnt und bewegten sich steif. Oksa sah immer wieder zu Gus, doch er wich ­ihren Blicken hartnäckig aus und starrte stur auf Abakums Rücken vor ihm. Seine gespielte Gleichgültigkeit verwirrte und ärgerte Oksa. Sie stupste ihn sanft mit dem Ellbogen an, doch

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