Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Nascentia geriet in Bewegung, was außerhalb der Membran Schreie der Erleichterung hervorrief.
Nachdem es Oksa gelungen war, sich halb um die eigene Achse zu drehen, sah sie sich einem Rücken und dunklem Haar gegenüber. Gus! Gus war mit ihr zusammen in der Nascentia! Aber ja, natürlich. Beide hatten sie dieselbe Behandlung bekommen. Sie befanden sich exakt in der gleichen Lage. Oder jedenfalls fast. Grundsätzlich ging man davon aus, dass das Blut eines Von-Draußen mit dem eines Von-Drinnen kompatibel war. Aber es stand nicht fest. Ängstlich musterte Oksa ihren Freund. »Beruhige dich, Oksa«, sagte sie sich im Stillen. »Er ist am Leben. Wir beide sind am Leben. Alles andere ist unwichtig.« Sie betrachtete ihn weiter und stellte fest, dass seine Haare gewachsen und die Finger, die er an seinen Hals gelegt hatte, länger geworden waren. Seine Schultern waren breiter, sein Hemd spannte, und die Nähte sahen aus, als wären sie kurz davor zu platzen. Oksa merkte selbst auch, dass ihre Kleidung viel zu eng saß. »Verflixt«, dachte sie, beunruhigt von den Veränderungen, von denen sie augenscheinlich auch betroffen war.
»Gus?«, flüsterte sie. »Gus? Kannst du mich hören?«
Der Klang ihrer eigenen – reiferen, runderen – Stimme erschreckte sie, und ihr Herz fing zu rasen an. Sogleich begann die Nascentia deutlicher zu pulsieren und übertrug in ihrem langsamen, regelmäßigen Tempo beruhigende Wellen auf Oksa. Auch ihr Ringelpupo beteiligte sich, und allmählich löste sich ihre Besorgtheit auf, und sie fand sich mit der Situation ab. Trotzdem bekam sie einen gewaltigen Schreck, als Gus sich zu ihr umdrehte. Beide sahen sich staunend an.
»Wow …«, stammelten sie im Chor.
Gus’ Stimme war sanft und tief, doch das war nichts im Vergleich zu den körperlichen Veränderungen. Seine Wangenknochen standen jetzt viel deutlicher hervor, sein Gesicht war markanter. Sein Kiefer war zwar immer noch fein, doch er hatte sich ein wenig dem ausgeprägteren Kinn angepasst, auf dem ein leichter Flaum zu sehen war. Sogar Gus’ Augen leuchteten mit einem anderen Glanz. Sofort erkannte Oksa, dass er immer noch gut aussah. Doch mit einem Vierzehnjährigen hatte das nicht mehr viel zu tun.
»Wahnsinn!«, rief sie. »Du bist es und bist es gleichzeitig nicht!«
Gus sah sie mit großen Augen an.
»Du solltest dich erst im Spiegel sehen …«
Oksa sah auf ihre Hände hinunter und stöhnte. Sie tastete sich sorgsam das Gesicht ab: Es fühlte sich anders an, als wären ihre Knochen feiner geworden und hätten sich gleichzeitig in die Länge gezogen. Ihre Wangen wirkten weniger rund und ihre Nase nicht mehr so kräftig.
»Wie sehe ich aus?«, fragte sie gleichermaßen neugierig und besorgt.
»Abgrundtief hässlich«, antwortete Gus ungerührt.
Oksa stöhnte wieder. Da legte sich ein strahlendes Lächeln auf Gus’ Lippen.
»Quatsch! Du siehst toll aus!«, sagte er und senkte verlegen den Blick.
Oksa setzte ihre Inspektion fort und stieß einen Schrei aus. Nicht nur ihr Gesicht hatte sich verändert, auch ihr Körper hatte eine Wandlung durchgemacht, wobei die Entwicklung ihrer … Brüste am verwirrendsten war. Sie hielt fassungslos inne, während Gus sich verschämt abwandte und feuerrot anlief – eine Angewohnheit, die er, wie er zu seinem Leidwesen feststellte, offenbar nicht abgelegt hatte.
»Glaubst du, dass wir jetzt rauskönnen?«, fragte er unsicher.
»Ich trau mich nicht …«
»Ich auch nicht, aber wir können schließlich nicht den Rest unserer Tage hier drin verbringen, oder?«
»Es ist doch gar nicht so schlecht.«
»Ein bisschen beengt bei unserer neuen Körpergröße. Du bist sicher mindestens einen Meter siebzig!«
»Hör auf! Du machst mir Angst!«
Einen Moment lang blieben sie still und reglos sitzen, erschlagen von der Tatsache, dass sie bereits in ihrem neuen Leben angekommen waren. Oksa dachte an ihren Vater, er musste krank vor Sorge sein. Und ihre Mutter? Oksa war überglücklich bei der Vorstellung, dass sie sie bald wiedersehen würde. Schließlich blieben ihre Gedanken bei Tugdual hängen, und sie wurde panisch: Würde ihm die »neue Oksa« gefallen? Sie zappelte in der Nascentia, die nochmals hin und her schaukelte. Da öffnete sich die Membran, und ein vertrautes freundliches Gesicht erschien vor ihnen.
»Abakum!«, riefen beide.
»Wie geht es euch?«, fragte der Feenmann.
Seiner Stimme war eine enorme Erleichterung anzuhören. Die Überraschung, die er ebenfalls
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