Oksa Pollock. Der Treubrüchige
er reagierte nicht.
»Sieh mich an!«, befahl sie.
»Ich habe dir doch schon gesagt, wie toll du aussiehst«, entgegnete Gus, den Blick weiterhin nach vorn gerichtet. »Was willst du noch mehr?«
»Darum geht es doch gar nicht!«, regte Oksa sich auf. »Sieh mich an! Bitte!«
»Zur Erinnerung an unsere Freundschaft, oder was?«
Oksa seufzte ärgerlich.
»Lass mich in Ruhe, Oksa«, sagte Gus schließlich. »Ich hoffe, dass ich mich eines Tages daran gewöhnen werde. Du hast nicht die geringste Vorstellung, wie schwer es für mich ist.«
»Ich weiß …«
»Nein, tust du nicht«, unterbrach sie Gus und folgte den anderen in die Küche.
Marie, die die geflüsterte Unterhaltung verfolgt hatte, ließ sich von Pavel zu ihrer Tochter schieben und nahm ihre Hand.
»Das setzt dir ganz schön zu, was?«, fragte sie.
»Ich verstehe überhaupt nichts mehr, Mama.«
»Es wird eine Weile dauern, bis sich alles wieder normalisiert hat«, sagte Marie sanft. »Ihr beide habt eine ziemlich dramatische Veränderung durchgemacht.«
»Du wirst dich zusammenreißen und auf das Wesentliche konzentrieren müssen«, schaltete sich Pavel in ernstem Ton ein. »Uns steht eine harte Zeit bevor.«
Als Letzte betraten sie die riesige Küche, in der vier Tische, beladen mit dampfenden Pasteten, unterschiedlichen Salaten, Käse, Hefegebäck und warmen Getränken, standen. Die Mahlzeit war üppig, die Stimmung frostig. Beide Clans hatten sorgsam darauf geachtet, getrennt voneinander zu sitzen, und alle gaben vor, sich auf das Essen zu konzentrieren. Nur das Brummen eines großen Ofens war zu hören. Alle hielten die Luft an, als Oksa hinter Maries Rollstuhl in den Raum kam. Die spektakuläre Verwandlung der Jungen Huldvollen traf sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Oksa ließ den Blick durch den Raum schweifen. Gus tat so, als würde der Becher mit heißer Schokolade vor ihm seine volle Aufmerksamkeit beanspruchen, und ignorierte sie einfach. Deshalb zögerte sie auch nicht, als Tugdual ihr ein kleines Zeichen machte. Sie lenkte den Rollstuhl in seine Richtung und setzte sich neben ihn, irgendwie enttäuscht.
Tugdual schenkte ihr eine riesige Tasse schwarzen Tee ein. »Wie geht es der Kleinen Huldvollen?«, flüsterte er ihr zu.
»Sie ist außer sich vor Freude, ihre Mutter wiederzusehen! Aber sonst fühlt sie sich etwas seltsam.«
»Tut dir irgendetwas weh?«
»Überhaupt nicht. Es ist mir ein Rätsel, wie man so schnell wachsen kann, ohne es überhaupt zu merken. Ich habe nur ein bisschen Muskelkater, weiter nichts! Dabei hatte ich als kleines Kind immer ganz schlimme Wachstumsschmerzen. Irre, oder?«
»Jedenfalls ist es bestimmt keine alltägliche Erfahrung. Ist dir klar, dass du jetzt nur ein paar Monate jünger bist als ich?«
»Nur?«, fragte Oksa erstaunt.
»Und, wie ist das Leben so, aus der Sicht eines reifen sechzehnjährigen Mädchens?«
»Ehrlich gesagt: ein ziemlicher Albtraum. Wenn ich dran denke, was uns bevorsteht, und vor allem, was uns droht, wenn wir es nicht schaffen … Zuerst müssen wir rausfinden, wo Edefia liegt, also die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen suchen. Aber mal angenommen, wir finden Edefia: Dann müssen wir da irgendwie reinkommen und einen Durchscheinenden auftreiben, damit Gus und ich zu echten Mauerwandlern werden. Anschließend müssen wir uns im Unzugänglichen auf die Suche nach Tochalis für meine Mutter machen. Dabei trägt das Gebiet seinen Namen sicher nicht umsonst. Und zu guter Letzt müssen wir die Kammer des Umhangs finden, bevor das Orthon gelingt, und die beiden Welten retten. Tolles Programm, oder?«, fragte sie leise.
»Die Rette-sich-wer-kann haben es sich eben noch nie leicht gemacht«, entgegnete Tugdual. »Und die Pollocks schon gar nicht!«
»Was du nicht sagst …«
Oksa war den Tränen nahe. Um es sich nicht anmerken zu lassen, biss sie herzhaft in ein Hefebrötchen mit Zuckerstreuseln. Alle waren jetzt mit dem Essen beschäftigt. Hin und wieder warfen sich die beiden verfeindeten Parteien verstohlene Blicke zu. Nur die Pizzikins ließen sich nicht die Laune verderben und flogen fröhlich Loopings über Dragomiras Kopf. Ein Stück weiter weg, am Ofen, standen die Plemplems und erfüllten zusammen mit anderen Geschöpfen, die ihre Hilfe angeboten hatten, vorbildlich ihre Aufgabe als Hausangestellte.
»Oh, diese Hitze! Welch ein Glück!«, glucksten die Sensibyllen neben dem Toaster.
»Ihr Hühnchen werdet euch noch die Flügel versengen, wenn ihr
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