Oksa Pollock. Die Entschwundenen

du da?«, rief Pierre, der am Rand des Felsspalts kniete.
    »Ja, Papa! Hier bin ich. Tu was, bitte!« Gus’ Stimme klang so weit entfernt, dass alle kalkweiß wurden.
    Pierre sah sich Hilfe suchend um.
    »Halte durch, Gus! Wir holen dich da raus!«, rief Oksa.
    Alle lagen oder knieten nun an der knapp ein Meter breiten Kluft, in die Gus gefallen war, und spähten nach ihm. Dort drunten herrschte jedoch absolute Finsternis, und sie konnten beim besten Willen nicht erkennen, wie tief der Junge gefallen sein mochte.
    »Kannst du nachsehen, wo Gus gelandet ist, Wackelkrakeel?«, fragte Oksa und holte ihren kleinen Erkundungsspezialisten aus ihrer Tasche.
    »Zu Befehl, Junge Huldvolle!«, sagte das Krakeel, bevor es sich auf den Weg machte.
    Sie mussten sehr lange warten, und es schien ihnen umso länger, als sie keinerlei zeitliche Orientierung hatten. Oksa kaute sich die letzten drei Fingernägel ab, die das Abenteuer bisher heil überstanden hatten. Schließlich tauchte das Krakeel staubbedeckt wieder an der Oberfläche auf. Es schüttelte sich und postierte sich stolz vor seiner Herrin.
    »Das Wackelkrakeel der Jungen Huldvollen meldet sich zum Rapport!«
    »Schieß los!«, sagte Oksa ungeduldig.
    »Der Freund der Jungen Huldvollen befindet sich auf einem kleinen, fünfundfünfzig Zentimeter breiten und zweiunddreißig Zentimeter tiefen Steinpodest. Es ist nicht sehr dick, knapp fünf Zentimeter, doch das Gewicht des Freundes der Jungen Huldvollen reicht nicht aus, um die Festigkeit des Podests auf die Probe zu stellen. Der Freund der Jungen Huldvollen hat sich bei seinem Sturz drei Schnittwunden zugezogen: zwei im Gesicht und eine in der rechten Hand. Doch Ihr könnt ganz beruhigt sein, die Verletzungen sind oberflächlicher Natur, der Freund der Jungen Huldvollen schwebt nicht in Gefahr!«
    »Wie tief ist er gefallen?«, fragte Pierre ungeduldig.
    Das Krakeel verzog das Gesicht und sagte: »Die Position des Freundes der Jungen Huldvollen liegt laut meinen Messungen vierhundertdreiundsechzig Meter unter der Oberfläche, in der Maßeinheit des Da-Draußen ausgedrückt.«
    »Vierhundertdreiundsechzig Meter!«, rief Oksa erschüttert.
    »Das ist korrekt«, bestätigte das Wackelkrakeel.
    Pierre fluchte laut und stampfte wütend auf den Boden. Leomido sah ratlos zu Abakum. Pavel, der bäuchlings am Rand des Abgrunds lag, studierte den dunklen Riss.
    »Mein Tintendrache passt nicht hinein, der Spalt ist zu schmal«, sagte er.
    »Und meine Teleskop-Arme reichen auch nicht so weit hinunter«, sagte Abakum, den Kopf in die Hände gestützt. Schweigend grübelten sie vor sich hin. Sie befürchteten das Schlimmste: dass sie keine Lösung finden würden, um Gus zu retten. Oksa schüttelte den Kopf, um diesen grauenhaften Gedanken zu vertreiben, Tränen stiegen ihr in die Augen. Das darf doch wohl einfach nicht wahr sein , dachte sie.
    »Ich könnte meine Saugfusor-Befähiger nehmen«, schlug sie vor und holte sie schon aus der Schatulle. »Sie müssten genügen, um einmal hin- und wieder zurückzukommen.«
    Abakum sah sie bedrückt an.
    »Zurück«, sagte er stockend. »Das ist ja gerade das Problem. Es wird dir beim besten Willen nicht gelingen, Gus wieder nach oben zu bringen.«
    Sie senkte den Kopf, Angst schnürte ihr die Kehle zu.
    »Helft mir!«, drang Gus’ Stimme als fernes Flüstern herauf.
    Pierre stöhnte schmerzerfüllt, als er den Hilferuf seines Sohnes hörte. Tugdual, der mit den Armen um die Knie etwas abseits saß, hob den Kopf.
    »Wackelkrakeel, aus welchem Material sind die Wände in dem Spalt?«, fragte er.
    »Aus Kalkstein, Enkel der Knuts«, antwortete es. »Ich habe zahlreiche Vertiefungen unterschiedlichster Größe – zwischen vier Millimetern und fünf Zentimetern – im Fels entdeckt. Doch in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen ragen auch scharfe Vorsprünge aus der Felswand, sodass der Abstieg eine Gefahr darstellt.«
    »Perfekt!«, rief Tugdual. »Ich mache mich auf den Weg!«
    Er sprang mit einem Satz auf und ging entschlossen auf den Spalt zu.
    »Moment mal, Junge!«, wandte Abakum ein und hielt ihn am Arm fest.
    »Warum?«, fragte Tugdual. »Ich bin der Einzige, der ihn retten kann, und das weißt du!«
    »Ja«, sagte Abakum resigniert, »ich weiß.«
    »Aber wie?«, fragte Oksa verblüfft.
    Tugdual trat näher, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr mit einem leisen Lächeln tief in die Augen.
    »Mit dem Kletterus, Kleine Huldvolle.«
    »Dem Kletterus?«, fragte sie