Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota

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verständnislos.
    »Du scheinst ganz vergessen zu haben, dass ich meiner Abstammung gewisse Fähigkeiten verdanke.«
    »Die Spinnentechnik!«
    »Genau«, bestätigte Tugdual. »Also wird eine Fähigkeit des abscheulichen mauerwandlerischen Handkräftigen alias die Fledermaus zur Rettung des Normalsterblichen dienen … kommt ziemlich überraschend, was? Und für mich ist es mal etwas anderes als die Wände von Leichenhallen und medizinischen Fakultäten«, fügte er spöttisch lachend hinzu.
    Er ließ Oksas Schultern los, aber erst nachdem er ihr leise ins Ohr geflüstert hatte: »Bis später, Kleine Huldvolle.«
    Dann wandte er sich Pierre zu, der ihn nicht aus den Augen ließ. »Ich weiß, dass du ebenfalls die Gabe des Kletterus hast, und ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber ich bin schmaler als du und hatte in letzter Zeit mehr Übung. Also bin ich dir gegenüber klar im Vorteil.«
    »Da hast du leider recht«, gab Pierre betrübt zu.
    »Ich mache mich jetzt auf den Weg.«
    »Dafür werde ich dir ewig dankbar sein. Pass gut auf dich auf!«, sagte Pierre und nahm Tugdual in die Arme.
    Der Junge befreite sich aus Pierres Umarmung und kniete sich an den Rand des Abgrunds.
    »Tugdual?«, sprach Abakum ihn an, und Tugdual drehte sich mit düsterer Miene zu ihm um.
    »Du wirst die Arboreszens und die Suspensas brauchen, hier, nimm sie.« Der Feenmann drehte mehrmals sein Granuk-Spuck in den Fingern, bis es sich über die ganze Länge öffnete. Dann schüttete er seine Granuks in Tugduals Granuk-Spuck. Er behielt nur wenige für sich. Mit einem Blick forderte er die anderen auf, ihre Granuks ebenfalls abzugeben.
    »Wie kriege ich das denn auf?«, schimpfte Oksa. »Ich wusste nicht mal, dass es überhaupt geht.«
    »So, Kleine Huldvolle«, antwortete Tugdual und half ihr. »Dreimal nach links drehen, zweieinhalbmal nach rechts, zweimal hintereinander auf eine Stelle mit einem Drittel Abstand zum Mundstück drücken, dann in Gedanken das Wort ›Veruculun‹ buchstabieren, und schon spürst du einen Spalt unter deinen Fingern: die Öffnung. Jetzt brauchst du nur noch einen Fingernagel hineinzuschieben, und schon geht das Granuk-Spuck auf!«
    »Aber meine Fingernägel sind nicht lang genug!«, jammerte Oksa.
    Lachend streckte Tugdual seinen Zeigefinger mit dem schwarzgeränderten Nagel aus. Als sein Granuk-Spuck bis oben hin gefüllt war, drehte er sich um, legte die Hände auf den Rand der Spalte und ließ sich hinab. Gleich darauf war er nicht mehr zu sehen, er war in der Furcht einflößenden Finsternis verschwunden.

Rettungsaktion in der Tiefe
    J
ede noch so kleine Vertiefung in der Kalksteinwand nutzend, kam Tugdual in gleichmäßigem Tempo voran. Mehr denn je fühlte er sich halb als Spinne, halb als Fledermaus. Seine Augen hatten sich rasch an die Dunkelheit in der Felsspalte gewöhnt. Er konnte nun genauso gut sehen wie eine Katze in der Nacht, während seine Hände und Füße den Fels abtasteten, um Halt zu finden. Mit mechanischen Bewegungen arbeitete er sich geschickt abwärts, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres für ihn, als mit bloßen Händen Felswände hinabzusteigen, die viele Meter weit in die Tiefe führten. Jeder andere hätte vermutlich bald den Mut verloren, doch nicht Tugdual: Für ihn war diese Prüfung kein Abstieg zur Hölle, im Gegenteil, sein Vertrauen in seine körperliche und geistige Kraft nahm immer mehr zu. Die metallschwarzen Wolken am blasslila Himmel waren nur noch als schmaler Streifen hoch über ihm zu sehen, und trotzdem steigerte sich seine Begeisterung von Minute zu Minute.
    Im Gegensatz zu dem, was die anderen glaubten – allen voran Gus selbst –, hasste er Oksas Freund ganz und gar nicht. Er regte sich nur furchtbar über ihn auf, aber das war ja überhaupt nicht dasselbe! Vielleicht war es sogar schlimmer. Es ließ sich nicht leugnen, dass Gus ihnen ständig Ärger bereitete. Und er brachte die Rette-sich-wer-kann in Gefahr, in erster Linie Oksa. Die Kleine Huldvolle mit den schiefergrauen Augen. Ihre enge Verbundenheit mit Gus nervte Tugdual. Durch sie wurde ihm immer klarer, dass er eine solche Zuneigung niemals kennenlernen würde. Er war zu eigenartig, um Freunde zu haben. Zu anders. Die einzigen Freunde, die er je gehabt hatte, waren schwach und beeinflussbar gewesen und hatten ihn als Verkörperung eines anbetungswürdigen schwarzen Magiers angesehen. Sie waren eher Marionetten gewesen. Sogar seine Eltern hatten die Waffen gestreckt und ihn zu seinen