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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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diesem merkwürdigen Jungen zusammentraf, brachte er sie völlig durcheinander, und das ärgerte sie. Sie überlegte, was sie sagen könnte. Sie spürte, wie sie rot anlief und wie die Worte in ihrem Kopf verschwammen.
    »Du trägst ja wieder deine Piercings!«, stellte sie schließlich fest und verfluchte sich im selben Augenblick für die Banalität ihrer Bemerkung.
    Tudgdual stutzte. Allerdings nur einen Moment lang, dann war sein Blick wieder klar, und seine Augen strahlten in diesem unglaublichen Eisblau, das ihr so gefiel. Sie schluckte und biss sich nervös auf die Lippe.
    »Ach! Weißt du …«, entgegnete ihr Tugdual, »niemand ändert sich je wirklich.«
    Seine Stimme war ernst und kühl wie ein winterlicher Luftzug. Mehr denn je war Oksa hin- und hergerissen zwischen zwei widersprüchlichen Empfindungen: Es gab eine Seite an Tugdual, die sie beruhigte und ihr Sicherheit vermittelte. Doch sie nahm an dem rätselhaften Jungen auch noch einen anderen Wesenszug wahr, etwas Gefährliches, fast Bedrohliches. Das Einzige, was sie mit Sicherheit sagen konnte, war, dass er ihr Herz in Aufruhr versetzte, sobald er sich in ihrer Nähe befand. Oksa betrachtete ihn: Er unterschied sich eigentlich kaum von dem Tugdual, den sie vor fast einem Jahr kennengelernt hatte: schlank, düster, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, Augenbrauen, Ohren und Nase mit lauter winzigen Edelsteinen gepierct. Er sah genauso aus und hatte dieselbe Ausstrahlung wie bei ihrer ersten Begegnung, an dem Abend, als sie das Geheimnis der Rette-sich-wer-kann erfuhr. Nur dass er sie heute mit einer viel größeren Intensität ansah als damals. Oksa-san, du spinnst … Reiß dich zusammen!, schalt sie sich selbst. Sie zog die Beine an und schlug sie unter, um ihre Verwirrung zu verbergen.
    »Aber das Entscheidende ist, dass man weiß, wer man ist, und es akzeptiert«, fuhr er fort.
    »Und wer bist du?«, entgegnete Oksa wie aus der Pistole geschossen.
    Tugdual warf ihr einen halb überraschten, halb amüsierten Blick zu, bei dem sie das Gefühl hatte, in Flammen aufzugehen. Er überlegte ein paar Sekunden und antwortete ihr mit einer Stimme, die so tief klang wie die seiner Großmutter Brune: »Wer ich bin? Willst du die offizielle Version oder die inoffizielle?«
    »Ich will die wahre Version«, sagte Oksa mutig. »Ich will wissen, wer der wahre Tugdual ist.«
    »Du bist ganz schön neugierig, Kleine Huldvolle! Und ich bin mir nicht sicher, ob du die Wahrheit überhaupt verträgst.«
    »Du hältst mich wohl für ein kleines Kind!«, entgegnete Oksa verärgert. »Das ist gemein von dir.«
    Tugdual schien kurz davor, loszulachen – was bei Oksa ein Gefühl ohnmächtiger Wut auslöste.
    »Du nervst!«, stieß sie wütend hervor und wandte den Kopf ab, um dem Blick dieser blauen Augen zu entgehen.
    »Du willst es also wirklich wissen?«, fragte Tugdual schließlich, nachdem er sie einige Sekunden lang hatte schmoren lassen.
    »Natürlich will ich es wissen«, murmelte sie trotzig.
    »Na gut. Ich bin der Abkömmling von zwei der bedeutendsten Angehörigen des Stamms der Handkräftigen aus Edefia, die hier im Exil leben. Ich verfüge über Fähigkeiten, die die mächtigsten Männer dieser Welt nur zu gerne besitzen würden, wenn sie davon wüssten. Ich könnte selbst der mächtigste Mann dieser Welt werden, und doch muss ich das, was ich bin, in meinem tiefsten Inneren verborgen halten, denn es zu zeigen könnte meinen Tod bedeuten – und den meiner Angehörigen. Aber all das gilt genauso für deinen Vater, deine Großmutter, Abakum oder meine Großeltern … und für dich natürlich. Vor allem für dich. Abgesehen davon bin ich ein sechzehnjähriger Junge mit einer Faszination für die düsteren und verborgenen Seiten, die alle Lebewesen, Mensch und Tier, in sich tragen. Manche würden das als morbide Zwangsneurose bezeichnen. Ich dagegen sehe das Dunkle und das Zwiespältige als Ausdrucksformen, die mich erst richtig lebendig machen. Ich kann gut sein und schlecht. Ich kann der treueste Freund und der grausamste Gegner sein, beides mit derselben Maßlosigkeit. Jede Bedrohung und erst recht der Tod sind für mich eine Herausforderung und ein Ansporn zum Leben, weil sie einen über die schreckliche Banalität des Daseins hinausheben. Und wenn du schon alles wissen willst: Die Begegnung mit einer gewissen Kleinen Huldvollen hat mich aus einer tödlichen Gleichgültigkeit gerettet. So tödlich, dass ich das Gefühl hatte, da niemals wieder

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